Pressespiegel
Die Kunst der Party. Am Sonnabend (9.10.) beginnt in der Kampnagel-Galerie KX eine Ausstellung mit Fotos, Videos und Installationen von Ina Wudtke, Barbara Jung und Claudia Reinhardt. Ab 22 Uhr sind Besucher aufgefordert, die Vernissage-Party mitzugestalten. Denn die Künstlerinnen setzen sich in ihren Arbeiten mit HipHop und Techno auseinander.
Techno meets HipHop. Die Anhänger völlig konträrer Vorstellungen von Musik und Lebensgefühl werden heute abend aufeinander losgelassen und begegnen dabei einer Spezies der dritten Art: dem Vernissage- und Kunstszene-Publikum. Anlaß ist die Eröffnung einer Ausstellung in KX auf Kampnagel von Ina Wudtke, Barbara Jung und Claudia Reinhardt: "du bist der letzte, der so ist wie du", lautet der Titel der Veranstaltung, die Fotoarbeiten, Texte, die Dekoration der beiden Musikräume und die Doppelparty mit bekannten DJs umfaßt.
Das Stichwort Identität liefert den Schlüssel zu den Beiträgen: Für Ina Wudtke spielt die EInbindung in die HipHop-Kultur eine große Rolle. Ein Jahr lang ist sie quer durch Deutschland zu HipHop-Jams gefahren und hat die großen und kleinen Stars der deutschen Szene fotografiert.
Claudia Reinhardt interessiert sich für Identitätsprozesse, die über Sexualität ablaufen. Sie hat die Gay Parade in San Francisco fotografiert, die unter dem Titel "Queer Nation" lief, und schmuggelt in den Fries der Parade-Teilnehmer Fotos aus dem deutschen Bürgeralltag. Schwer zu entscheiden, wer auf diesen Fotos eigentlich "queer", verrückt, ist. Barbara Jung gehört zur Techno-Szene, legt selbst Platten auf und thematisiert in ihrer elektronisch bearbeiteten Fotoserie die Gestalt des DJ.
Silke Müller
Sie erkunden das Verhältnis von Individualität und kollektiven Strukturen in der Jugendkultur, der Queer Community und der Dance-Floor-Szene. Claudia Reinhardt, Ina Wudtke und Barbara Jung machen dort Kunst, wo soziologische Forschung, Musik-, Video- und Kunstszene aneinanderstoßen. Deshalb ist die Vernissage eine Party, erinnert die von ihnen gestaltete Freistil-Seite an ein Filmplakat
[Farbplakat "Du bist der Letzte, der so ist wie du"]
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Am Rande des Kunstgeschehens schossen eigenwillige Pflänzchen ins Kraut: die Artzines, von Künstlern gemachte Zeitschriften. Gunter Reski stellt das Umfeld vor
Während sich die Hochkonjunktur des 80er-Jahre-Kunstmarkts durch eine einzige Yuppie-Kunstzeitschrift, den Wolkenkratzer, ankündigte, tummeln sich seit gut zwei Jahren als Krisen-Herolde etliche billigere Magazine und Hefte mit und über Kunst. Erscheinungsbild und Fertigung dieser Kellerkinder der Branche "Kunstzeitschriften" reicht von Flutblattlook über trashigen Schnelldruck bis zu "Bahnhofskiosk-kompatibel". Manche haben bereits zehn Ausgaben hinter sich. Bis auf zwei (Heaven Sent und Die Beute) werden diese Organe von Künstlern betrieben, was angesichts der sonst dominierenden Arbeitstechniken in der Kunst überrascht.
Jedes dieser "Artzines" (vom englischen "magazine" abgeleitet) funktioniert erstaunlich gut. Wenn der Zerfall des Kunstbetriebs mit Häufchenbildung einhergeht (ohne entsprechendes Hausorgan war von deren Existenz nichts zu ahnen), dann stehen diese zahlreichen Publikationen für eine "Verclubung" der Branche.
Im Sinne des Recyclinggedankens folgen alle Hefte der Maxime (Ausnahme: The Thing): Welche Überraschungsmomente lassen sich einem abgestandenen und belasteten Instrumentarium unter (un)freiwilligem Verzicht auf neuartige Stilmittel abgewinnen? Freunde des Subkulturellen sprechen davon, daß damit letzteres erstmalig ins Feld der bildenden Kunst eingezogen sei. Denn: Selbst wenn man bei diesen Artzines von individueller taktischer Mediennutzung sprechen kann, ist diese Sicherheit nicht auf raschelnde Scheine hin kalkuliert. Eine Erklärung für diesen engagierten Goodwill-Journalismus? Offensichtlich bemüht sich Kunst derzeit um mehr "gesamtgesellschaftliche Relevanz". Wer auch nur zehn Leser hat, macht Meinung und hat somit Einfluß.
Bei andauerndem Währungsschwund springt auch verschüttet Geglaubtes wie Idealismus quasi als Ersatzwährung wieder aus der Asche. Dabei beobachten die Heftchenmacher untereinander mit Argusaugen, wer sich wie weit mit etablierten Kräften einläßt (legitimierbar!) oder inwieweit dort ranschmeißt (verwerflich!). Die Bezeichnung "Galeriekünstler" wird langsam zum Schimpfwort, und Galeristen nennen sich demnächst Agenten, weil diese Benennung ohne Hinweis auf Räumlichkeiten auskommt. Trotz der andauernden Schwellenangst greifen einige ehemalige Hochglanzfetischisten unter den Galeristen diese Art von Publikationen dankbar als Feldversuche auf. Sie interessiert: Wie macht man den allerbilligsten Katalog?
Das traditionelle Medium Künstlerzeitschrift hat einen Bart, so lang, daß dessen Verwendung nicht ohne akademischen Beigeschmack ist. Man kann beinahe sagen: Keine erwähnenswerte kulturelle Formierung ist ohne derartiges Propagandamittel ausgekommen. Als Mittel zur Durchsetzung eines Produkts gleicht es der Erfindung der Bandenwerbung. Trotzdem lag die Künstlerzeitschrift lange brach, weil der Trugschluß regierte - diesen als solchen enthüllt zu haben, ist schon ein Verdienst -, es seien manifeste Eckdaten wie Pamphlete und Erneuerungsschübe unablässig für Gründung und Betrieb derselben. Es hat sich gezeigt, daß es auch Sinn macht - vorausgesetzt die autopoetischen und selbstreferentiellen Kräfte weisen genug Turbulenzen auf -, das Pferd von hinten aufzuzäumen und dann möglichst blind durchgehen zu lassen. Aber auch bei diesem überraschend produktiven Umgang mit einem Vakuum zeigt sich nach anfänglich lustigen Querschlägen, wie im Blind- und Sturzflug schnell die Tendenz zur Verfestigung von ursprünglich eher zufällig gesetzten Erkennungsmerkmalen auftritt. Man vergleiche die quälenden Bemühungen von Tempo, sich nach dem Tod des Zeitgeists ein neues Gesicht zu geben: Das zeiht sich vergeblich in die Länge wie die ellenlangen Texte dort auch.
Ursache für die Flut der Artzines, die bereits wieder zu verebben scheint, mag der andauernde Theorieboom an den Kunstakademien gewesen sein, der zu unkonventionellem Theoriehandling verführt hat - bedingt durch ein starkes Streben nach produktähnlichen Absonderungen oder den Wunsch, diese gehobene Überfütterung abzureagieren. Im Zusammenhang mit steigender Verkopfung und Diskriminierung existentieller 1:1-Selbstabdrücke bietet sich die kleine Zeitung von nebenan als wundervolles Ersatzventil an.
Daseinsberechtigung und Sympathiebonus hatten alle Hefte schon vorab und frei Haus durch die eklatanten Schwächen der kommerziellen Blätter: zu teuer, zu langsam, zu doof, zu bildungssüchtig. Die nicht-kommerziellen Hefte zahlen mit Selbstausbeutung für offene Worte. Konzessionen an Anzeigenkunden fallen flach. Zusätzliche Legitimation: Die Umgangsweisen von Kuratoren mit der Künstlerschaft nehmen derzeit Züge des rohstoff- oder edelmetallverarbeitenden Gewerbes an. Gegen solche Übergriffe ist Gegenwehr angesagt. Als Teilerfolg läßt sich die Befreiung unkommerzieller Initiativen vom alternativen Müslibeigeschmack festmachen.
Für die Lektüre der Artzines ist ein relativ hoher Informationslevel vorteilhaft. Der Leser soll nicht gebildet werden, sondern vorab in der Lage sein, Insider-Witze zu entschlüsseln. Auffällig sind die regional verscheidenen Sprachregelungen. Ein Wortspiel aus Düsseldorf muß in Hamburg meistens erklärt werden - wenn es überhaupt einer hören will. Aus den Texten klingt oft, was im professionellen Journalismus durch den jeweilig typischen Redaktionsstandard verschluckt wird, laut und deutlich die Stimme einer Person heraus. Folge: Das Lesevergnügen ist garantiert.
A.N.Y.P. - A.N.Y.P. ist eine echte Konzeptzeitung für Kontextfans: "Theorie unter Anwendungszwang". Die "Anti-New-York-Pläne" zeigen strategisch Willen zur Bedeutsamkeit, indem zehn Jahre lang jedes Jahr nur eine Ausgabe erscheint. Diese möchte jahrbuchartig alle relevanten Tops in einem Artikel abhandeln, was trotz hohem Fremdwortanteil schwer zu lösen ist. (Bestellen bei Pfuelstraße 5/9, 10997 Berlin)
ARTFAN - Subversiv gemeint ist der Verzicht auf Autorenschaft und -nennung. Repräsentative Berichterstattung nicht nur über Österreichs Kunstszene. Landesfremden bleibt die feinsinnige bis hinterfotzige Akzentuierung meist unverständlich. Bei Erscheinen der ersten Ausgabe schickten Wiener Galeristen Glückwunschtelegramme. (Engerthstraße 99-101, 11/18 A-1200 Wien)
AMOKKOMA - Trendy Blättchen von erfolgreichen Jungkünstlern. Jüngste Ausgabe zu 70 Prozent, glaube ich, spanisch. Daher und sonst auch wenig aufschlußreich. (c/o K. Baumgartner, Feldstraße 118, 24105 Kiel)
DIE BEUTE erscheint erstmalig im Februar '94 und ist kein Artzine. Die interessante Einstiegsbroschüre kündigt eine Politzeitung an, die auch "die Kommunikationslosigkeit, die zwischen politischer und künstlerischer Opposition herrscht", aufheben möchte. Das Feuilleton von Konkret vor Augen, kann die Initiative des Wohlfahrtsausschusses Frankfurt nur erfolgreich sein. (Edition ID-Archiv, Schliemannstraße 23, 10437 Berlin oder im Buchhandel)
DANK aus Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt lebt vom falsch verstandenen Pluralismus. Die Qualität seines Kraut-und-Rüben-Looks wurde erst deutlich, als anderswo versucht wurde, diesen nachzuahmen. Dieses Jahr verstärkt im Ausstellungswesen aktiv und nicht ganz so treffsicher. Am billigsten und am dicksten. (c/o C. Bannat, Wohlwillstraße 1, 20359 Hamburg)
GWARRRT - Ein ehemaliger Prinz-Redakteur versteht sich auf versierte Klatschseiten und intelligentes Klauen. Kurzweilige Lektüre für die Kaffeepause. Zweisprachig englisch und schwäbisch. Stark am Salongeschehen interessiert. (Im Schellenkoenig 16, 70184 Stuttgart)
HEAVEN SENT aus Frankfurt. Eine Art modernes progressives Westermanns Monatsheft. Umfangreiche richtige Zeitschrift nur aus Feuilleton. Schon zehn Ausgaben. Hält beflissen immer am zweitschnellsten die kommenden Themen parat. Ödes Outfit und die Redakteure buttern pro Ausgabe etwa 1000 Mark dazu. (Am Bahnhofskiosk)
NEID Bisher erst eine Ausgabe mit Farbkopien. Diese widmet sich verstärkt dem Themenkomplex "Frau" und war nicht eben vielversprechend. Dann wird es eben die nächste. (Ölmühle 32, Hamburg 36)
POSTILLE zeigt unfreiwillig das Standortproblem Berlin auf. Anscheinend mangelt es nach wie vor an hinreichend eigenen kulturellen Ressourcen, aus denen sich schöpfen ließe. Für Berlin selbst nicht unwichtig. Ansonsten zuviel Bruno Brunnett und Abklatsch von anderswo. (Paul-Lincke-Ufer 25a, Berlin 36)
THE THING ist eine Mailbox für Künstler, in der man sich via Modem anspruchsvoll mit Kollegen unterhalten kann. Das soll die Rollenverteilung Autor-Leser auflösen und "die neue Sprache" entwickeln. Jüngstes Beispiel für Verdummung durch Fortschrittsgläubigkeit. (Friesenwall 116a, Köln BBS 0221/12 55 82-84)
Ein Freund erzählte mir, er habe im Zug bei seiner Lektüre der neuen Ausgabe des Hamburger Kunst-Femzines Neid anerkennende und begehrliche Blicke mitfahrender Männer bemerkt. Von weitem sieht das Titelbild ein bißchen aus wie das Cover von Jimi Hendrix' Electric Ladyland (nackte Frauen). Schaut man näher hin, sieht man Frauen mit Plastikpos und -brüsten. Netter Witz. Innendrin wird es mühsam: Neben der unvermeidlichen Judith Butler, diesmal in Form eines Seminarmitschnitts ("Zeitweise reduzierte ich mich, um eine politische Aussage zu machen"), findet sich eine euphorische, aber leider nur Eingeweihten zugängliche Rezension von Donna Haraways Simians, Cyborgs, and Women, verschiedene Erfahrungsberichte und ein naiv-anklagender Schulmädchenaufsatz zum Paragr. 218 ("Es geht nur um den Schutz vor Tötung, nicht um den Schutz vor einem Leben als unerwünschtes Kind").
Hauptthema von Neid: Sex; Hauptfeind: das heterosexuelle Zwangsregime; Lieblingsworte: Konstruktion, semio-materielle Artikulation, Identität; Zauberwort: queer. Die Bilder sind besser als die Texte. Erkenntniseffekte beschränken sich auf Einsichten wie "Madonna soll den Heterozwang bestätigen, wenn sie sagt, ich bin ein schwuler Mann in einem weiblichen Körper". Kunsthochschulenpartyfeminismus."
sg
Sammelkritik zu den Zeitschriften Come Back, Erkrath; Pakt, Bielefeld; Nummer, Köln; anton, Düsseldorf, medium, Frankfurt; und Neid.
... Weiter mit den Universitätsstädten. Claudia Reinhardt und Ina Wudtke schreiben ihr HH-Hochschul Femzine als "...einzige(s) Magazin, wo Männer wirklich unterdrückt werden", was dann heißt, in Brautkleider gesteckt. Der Schein-Tod nach der ersten Ausgabe zeugte von den wohl jeder/m in vergleichbaren Bereichen arbeitenden bekannten Schwierigkeiten, sich abseits des Mainstreams ein periodisches Forum zu schaffen; die Ansprüche der LeserInnen an die zweite Ausgabe sind dann natürlich auch weitaus höher, zumal Neid eben nicht die weibliche Ausgabe von DANK sein will: "Fummel- und Krakel-Ästhetik geht jedenfalls nicht mehr." Die sehr Amerika- und urbantechnolastigen Beiträge springen zwischen Tagebuchnotizen und EIntragung ins Klassenbuch, also zum einen persönliches, angenehmes "Rummachen" und lockeres Ankoppeln an (ge)hyp(t)e Komplexe ("BI no other choice", "Babbelnet",...) zum anderen eher triste Hausarbeiten für Hochschulseminare (Houseplattenkritik, Cyborgbesprechung,...). Dazwischen richtig schlechte Sachen wie "Housenation?" oder der dünne uninformative Artikel über "queer". Einen "vier Jahre zu spät"-Eindruck hinterlassen auch die Fragen an einen Macher des afro/latino-amerikanischen TV- und Videoprojektes "Not Channel Zero". Ganz okaye Beiträge zu Paragr. 218, poetische Texte, Überblick über Lieblingscomputerspiele, ein Referat von Judith Butler, beigelegte HipHop 7inch (Anarchist Academy's sister-like), liebe Bienchen-, Made/Mädchen-Zeichnungen, toughe HC Druillet-versucht-Anarcoma Stills und seltsamer Fotojournalismus. Schlingern zwischen Sinn, trash und Oberflächlichkeit. "Mmmh... Taste (...)" it.
Wenn irgendwo eine "Woche der bildenden Kunst" eröffnet wird, rechnet man nicht unbedingt mit Exzessen. Doch lassen wir uns nicht von solch trockenen Titeln erschrecken. Im Westwerk wird am Sonnabend (20.00) eine Veranstaltung unter eben diesem Motto eingeleitet. Die Gestaltung hat das Art-Zine "Neid" übernommen. Die DJs Timmy John und Dubidub legen Club-Soul und House auf. Für Weicheier ist auf der Veranstaltung kein Platz: Die Happyhour beginnt erst um 3.00 Uhr morgens, vor 8.00 wird die Anlage nicht abgeschaltet.
cb
Gerade erst hat sich die begriffliche Trennung von "sex" und "gender" durchgesetzt, da wird sie bereits wieder in Frage gestellt. Ein Beitrag zur Debatte um die Feminismustheoretikerin Judith Butler
Es hatte damit angefangen, daß mein Vater, der seine Zweifel an der wissenschaftlichen Sauberkeit feministischen Gedankenguts mir gerne vorträgt, mich an einem Ort anrief, an dem mich deutsche Feuilletonkultur nicht erreichte. "Hast du schon von dieser Judith Butler gehört?", fragte er. Das hatte ich nicht. "Stell dir vor", erläuterte er, "ich habe in der Zeitung gelesen, daß sie die These vertritt, die Begriffe Mann und Frau seien überflüssig." Das konnte ich mir allerdings nicht vorstellen. Also besorgte ich mir das Buch Das Unbehagen der Geschlechter von Judith Butler und in der Folge noch andere Bücher, Zeitschriften und Artikel, die sich mit dieser allerneusten Unerhörtheit aus den Vereinigten Staaten beschäftigen. Und ich stellte fest, spinnen tut sie nicht, die amerikanische Wissenschaftlerin, im Gegensatz zu manchen ihrer Fans.
Worum geht es? Eigentlich um etwas theoretisch gar nicht so Brandneues, nämlich um die Un-Natur der Kategorie "Natur". Und die wird, wie wir wissen, besonders gern im Zusammenhang mit 1. Sexualität und 2. Frauen benutzt. Bisher, so Butler, schien die Kategorie Frau für feministische Theorie als auch für feministische Praxis unabdingbar zu sein. Über das femnistische Subjekt - das also, was alle Frauen verbindet - sollte sich die Gemeinsamkeit von Interessen und Bedürfnissen ebenso wie eine gemeinsame Handlungsbereitschaft herstellen. Alle Frauen seien qua Frau quer durch alle Kulturen vom Patriarchat unterdrückt. Und wenn man die Unterdrückung beseitigte, käme die wahre bzw. natürliche Frau zum Vorschein. Butler legt nun dar, daß eben diese scheinnatürliche Kategorie selber schon eine Konstruktion desjenigen sprachlich organisierten und reglementierten Machtsystems ist, aus dem das feministische Subjekt sich befreien will. Die Frauen klagen ihre Emanzipation bei den Trägern jenes Herrschaftsbereichs ein, dessen Produkt sie selber sind.
Ganz praktisch spricht gegen die Universalität des feministischen Subjekts außerdem die leider nicht wegzuleugnende Tatsache, daß sehr viele Frauen sich von diesem Subjekt nicht vertreten fühlen oder sogar strikt ausgeschlossen werden. Damit geht Butler das derzeit hoch im Kurs stehende Problem der Differenzen von einer anderen Seite an. Die Frage, ob es sich bei den Unterschieden zwischen allen Frauen um historisch gewordene Verschiedenheiten handelt und wie man diese berücksichtigt, löst sie auf sprachlogische Weise. Ihre zentrale Frage lautet: "Stellt nicht die Konstruktion der Kategorie 'Frau(en)' als kohärentes, festes Subjekt eine unvermeidliche Regulierung und Verdinglichung der Geschlechterbeziehungen dar?"
Nicht nur der "natürliche" Unterschied zwischen Männern und Frauen sei etwas Gemachtes, Gedachtes. Es ist dieser Dualismus selber, der ein kulturelles Konstrukt darstelle. Auch femnistisches Denken sprengt den Rahmen des entweder männlich oder weiblich nicht, wenn es um das spezifisch Weibliche geht. Noch in der Absetzbewegung formuliere es sich vom Männlichen her. Butler schlägt daher vor, die Vorstellung von einer irgendwie gearteten weiblichen Identität gänzlich fallenzulassen. Auch die Trennung von sex und gender führt ihrer Meinung nach nicht aus der Falle heraus. Zur Erinnerung: Unter gender, der Geschlechtsrolle, wird neuerdings die kulturell erzeugte gesellschaftliche Rollenvorgabe begriffen; und die stehe nicht in einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang mit dem sex, dem Geschlecht. Doch wie natürlich ist denn die Wahrheit dieses Geschlecht, fragt Butler. Wie hat man es sich zu denken, biologisch, anatomisch, gonadisch (durch die Keimdrüsen bestimmt) oder genetisch? Tatsächlich sind es die Wissenschaften, die die "Natur" des Geschlechts definieren und sie immer mehr ins Abstrakt-Chiffrenhafte verlagern.
Kurzum, den angeblichen Unterschied gibt es nicht. Das Geschlecht (sex) ist ebenso wie die Geschlechtsidentität (gender) "kulturell hervorgebracht". Und es ist, darin folgt Butler Foucault, die List der Macht, beide voneinander zu trennen und dem konstruierten Geschlecht nachträglich den Stempel Natur aufzudrücken. Wir haben es mithin bei der Geschlechterordnung nicht mit natürlichen Tatsachen zu tun, sondern mit normativen, Tatsachen erzeugenden sprachlichen Setzungen. Und nach Butler ist die Norm, die sich - ohne sich als solche zu erkennen zu geben - in der geläufigen Geschlechterauffassung durchgesetzt, das Gesetz der institutionalisierten Heterosexualität.
So weit, so einleuchtend. Was aber, bitteschön, fangen wir damit an? Gibt es für dieses Gedanken-Werkzeug auch eine Gebrauchsanweisung zur Herstellung einer besseren Welt? Oder, theoretisch formuliert: Kann eine Theorie, die derart radikal sämtliche gesellschaftlichen, um nicht zu sagen menschlichen, Ordnungskategorien als ideologieverfallen verwirft, ihrem selbstgestellten Anspruch genügen, trotzdem feministische Handlungsmöglichkeiten bereitzustellen? Gewiß, antwortet Butler, darin liegt unsere einzige Möglichkeit. Gerade daß wir Frauen nicht wissen, wie das Weibliche von Natur aus beschaffen ist, und somit auch nicht, wie es aus allen Entstellungen und Unterdrückungen erlöst zu werden hat, gerade dieses Wissen gibt uns die Chance "subversiv" zu spielen.
Da ein Außerhalb nicht existiert, gilt es nicht, eine schöne Utopie zu erdenken, ein drittes Geschlecht, eine androgyne Figur zu erschaffen. Es gilt vielmehr, innerhalb des binären Systems Mann-Frau Verwirrung zu stiften, subversiv das Geschlechterverhältnis und mögliche Subjektivitäten ins Unendliche zu multiplizieren, die Zweiheit in vielen bunten, widersprüchlichen, verrückten Inszenierungen zu parodieren. Butlers Idee von der Geschlechterparodie - gelegentlich sagt sie auch Travestie - zielt auf mehr als eine Verspottung der normalen Männer und Frauen, nämlich auf die Auflösung des Begriffs des Originals. Parodistische Inszenierungen unterlaufen den Zwang zur Eindeutigkeit. Und wenn sich die Geschlechtsidentität als ein jeweiliger momentaner Akt stilisierter performance entpuppt, wird sie als Trägerin von Wesenseigenschaften schließlich "radikal unglaubwürdig". Das zumindest ist Butlers Hoffnung.
Und da sitzt denn auch schon der Haken. In den späten 70ern dachte und lebte ein Teil der Frauenbewegung nach dem Slogan "Feminismus ist die Theorie und Lesbianismus ist die Praxis". Nicht von ungefähr erfährt dieser Theorie-Praxis-Kurzschluß - mal angesehen davon, daß Feminismus nicht eigentlich eine Theorie, sondern eher eine Überzeugung ist - derzeit im Gefolge von Butlers Buch ein erweitertes Revival in der cis- und transatlantischen Szene. Und das lautet kurz und schlicht: Heterosexualität, überhaupt jede eindeutige sexuelle bzw. geschlechtliche Orientierung, ist out, und queer ist in. Wobei queer erstmal schräg, verrückt, daneben, uneindeutig meint und darauf hinausläuft, daß Mann und vor allem Frau es nicht nur auf eine Weise treiben soll und schärfste Geschlechtsverkleidungen erwünscht sind. Es liegt daneben, wer nicht daneben ist.
Am verquersten präsentiert die Hamburger Frauenzeitschrift "Neid" ("Das einzige Magazin, wo Männer wirklich unterdrückt werden") den angesagten Queer-Lifestyle. Sehr hübsch murksig ist schon die Begriffserklärung: "Jetzt benutzt man dieses Wort für Leute, die sich nicht durch ihre Geschlechtsorientierung bezeichnen, sondern sich auf eine Identität beziehen, die aus beiden Richtungen besteht und die konstruiert ist." Die scheinbar aus der ersten Reihe verabschiedete Sexualität drängt under cover nun erst recht überall herein: "Sex ist keine Finalität, sondern eine Möglichkeit, das Leben zu kreieren."
Am charmantesten an "Neid" Nr. 2 mit den witzigen, wüsten Illustrationen, das sich der Butler-Nachfolge widmet, ist jedoch seine Textmischung: Alles und sein Gegenteil wird unverdaut ausgespuckt. Neben einer naiven Geschichte aus San Francisco, in der eine junge Frau aus ihrem Sexleben mit Frauen und Männern plaudert und am Ende völlig unqueer klagt: Die Welt hat keinen Platz für Bisexualität, denn, ach, die Gesellschaft akzeptiert sie nicht -, neben dieser Aufbau-Story gibt es eine ebenso begeisterte wie hilflos-krypische Besprechung eines Aufsatzes der Butler-nahen US-Autorin Donna Haraway über "Cyborgs", in der ahnungsvoll versichert wird: "Es geht nicht um den Hype einer Theorie der Saison." Genau um den geht es aber, wie die dokumentierte Mitschrift eines Uni-Seminars mit Judith Butler belegt. Darin versucht diese, das Chaos zu ordnen, das sie unwillentlich unter ihren Jüngerinnen angerichtet hat: "Der Fehler, den ich in Gender Trouble beging, was das Beispiel der Travestie anzuführen ... es wurde so verstanden, daß es nur um die Frage geht, was ich heute anziehe." Und noch deutlicher: "Gender ist kein Teil im Kleiderschrank."
Nun kann Butler nicht für die Schlichtheit ihrer Adeptinnen haftbar gemacht werden. Adorno, der ja auch mehr praktische Liebhaber hatte, als ihm recht war, hat sich z.B. immer gegen "Anwender" seiner Philosophie gewandt und sich erst recht vor Handlungsanweisungen gehütet. Butler möchte für die buchstäbliche Oberflächen-Nutzung ihrer Thesen denn auch gerne unsaubere Lektüre verantwortlich machen: "Seit dem Aufkommen der 'queer theory' und einer neuen Spielart der 'theory culture' in den USA kursieren höchst reduzierte Karikaturen komplexer intellektueller Positionen als 'readings'." ("Texte zur Kunst") Dennoch hat sie selber auch die Geister gerufen, die sie nun nicht mehr los wird. Das Mißverständnis ist schon in ihrer Theorie angelegt, die eben nicht nur Theorie, sondern auch Praxisanleitung sein will. In diesem Zusammenhang erinnert Cornelia Eichhorn in der "Beute" noch einmal daran, daß sich Theorie nicht umstandslos in Praxis überführen läßt, da erkenntnistheoretische Sätze einen anderen logischen Status haben als normative. Folglich erscheint ihr Butlers Abhandlung über Subjektkonstitution "als dekonstruktivisches Projekt ... durchaus plausibel, als emanzipatorisches Projekt der Bedeutungsvervielfältigung jedoch schlicht unbrauchbar".
(...)
Damit ist zum Schluß der heikelste Bereich möglicher Folgen - nicht Intentionen - des Butlerschen Dekonstruktivismus berührt: In seiner sprachlogischen Abschottung ist das Spiel mit Identitäten und Bedeutungen gegen unterschiedlichste gesellschaftliche Funktionalisierungen nicht gefeit. Und die Queer- und Transi-Mode mag nur als harmloser Beleg dafür dienen, daß sich Bekämpfung und Affirmation dessen, was ohnehin ist und sein wird, schließlich kaum noch unterscheiden lassen.
Christel Dormagen
"Neid" bezeichnet sich selbst als das "ruffeste artfanzine aller zeiten". Was sich hinter diesem Begriff versteckt, ist ein Kunstmagazin aus Hamburg, das heute seine dritte Nummer im Delicious Doughnuts vorstellt: eine Zeitschrift voll mit Musik, Erotik und autobiographischen Texten! Und als Krönung legen die beiden "Neid"-Herausgeberinnen Ina Wudtke und Claudia Reinhardt heute abend auch noch selbst Hip-Hop auf!
Abseits der Redaktionsstuben und Verlagshäuser blüht ein vielfältiger literarischer und journalistischer Underground. Christoh Twickel tauchte ein in die Welt der nichtkommerziellen Klenstzeitschriften, auf deutsch "Fanzines".
Fragt man einen Bäcker, was ein Brötchen ist, so wird er verständnislos entgegnen, es handle sich um ein "sehr kleines Brot". Fragt man einen Sektenführer, was es mit seiner Glaubensgemeinschaft auf sich hat, wird er antworten, sie sei im Grunde wie die Amtskirche, nur "wahrhaftiger". Irgendwo dazwischen liegt die Antwort eines Fanzine-Machers, den man um eine Auskunft über sein machwerk ersucht: "Es ist eine sehr kleine Zeitschrift", wird er sagen, "aber die beste der Welt!"
Die Generalfunktion nichtkommerzieller Kleinstzeitschriften wäre damit bereits geklärt: Sie machen ihre Erzeuger glücklich und stolz. Was braucht man also, um im Dschungel der Hamburger Zine-Szene einem handelsüblichen Schnellkopiergerät ein veritables Magazin zu netlocken? Die Fanzine-"Oldschool" schwört auf den traditionellen Einsatz von Schreibmaschinen, Scheren, Uhu und vor allem Bier. Letztere Zutat stellt zudem einen wichtigen Themenbereich dar. So berichtete das Jungens-Fanzine Heft vor einiger Zeit von einem drastischen Selbstversuch der Redaktion, sich geschlossen der drogenfreien "Straight Edge"-Bewegung anzuschließen. Die nach drei Tagen abgebrochene Aktion bescherte den Lesern erschütternde Erfahrungsberichte und lehrreiche Testreportagen zum Thema "Alkoholfreies Bier". Vierteljährlich versorgt die Redaktion um Franko Kroschewski und dessen sagenumwogenen Bruder "Bernd" vor allem die Stammgäste des "Casper's" in der Talstraße mit Rezensionen und Interviews zu möglichst abseitigen Lärmkapellen und lustigen Specials wie "Olympia 2004 Quickborn" oder "Homediving". Es liegt wohl weniger am Alkoholismus als an der Gefahr, das Heftmachen könne zur Routine werden, daß die letzte Ausgabe bereits im Juni '94 erschien. "Lieber mal aussetzen, als langweilig werden", rechtfertigt Kroschewski die heftlose Zeit.
Außer Bier braucht es für den steten Ideenfluß der Fanzine-macher Genialität, die laut Hamburgs alteingesessenem Ein-Mann-Periodikum Klausner aus "40 Prozent Leidenschaft, 25 Prozent Arbeit, 20 Prozent Selbstüberschätzung, 14,8 Prozent Talent und 0,2 Prozent Genie" besteht. Seit einem halben Jahrzehnt marschiert Fanzine-Faktotum Kai "Klausner" Damkowski alle paar Monate mit einem Bündel Erzählungen, Gedichten, Weltbetrachtungen, Comics und Musikrezensionen in einen Copyshop seiner Wahl und unterwirft auf Lesungen im "Heinz Karmer's" und "Casper's" die so erzeugte Genialität mutig dem Urteil einer kleinen, aber zähen Fan-Schar.
Überhaupt ist der Mikrokosmos ein unverzichtbares Wesenselement der Kleinstzeitschriften und hier speziell der sogenannten "Hamburger Schule". Im DIN-A-5-Magazin XXS von Michael Hess und Marc Fischer geht Klatschkolumnist Carol von Rautenstrauch nonchalant davon aus, daß Autoren- und Leserschaft weitgehend identisch sind, wenn er zum Beispiel "Ralf und Anne" als "Paar des Monats" outet oder von "Myriams Geburtstagsparty" berichtet, als wären wir alle Myriams beste Freundin. Dennoch: Im Prinzip darf jeder die Seiten des XXS füllen, der bereit ist, 15 Mark zu zahlen, und der etwas Kompetentes über alternative Musikkultur zu sagen hat.
DerMikrokosmos von Pearl ist weitverzweigt: Von China bis Neuseeland ist alles versammelt, was dem Independent-Pop verfallen ist. In mühsamer Forschungsarbeit versucht die Crew um Thomas Overdick noch den verstecktesten Geheimtip für Freunde smarter Underground-Klänge zu Tage zu fördern.
Braucht man für subkulturelle Druckerzeugnisse keine Frauen? Doch, sagten sich Silke Burmester und Heike Hackbarth, gründeten Planet Pussy und riefen damit die "Girlschool" der Hamburger Fanzine-Szene ins Leben. Mit Astrologie ("Pussyskop"), Gesundheitstips ("Heilmittel Urin"), Modeberatung ("Muh - Wir tragen wieder Fell") und einer Story über die Frauen von Fußballspielern ("Tu ihn rein, Lothar!") bietet die erste Ausgabe alles, was auf dem Planeten der Damen interessiert und stellt mithin eine echte Alternative zu herkömmlichen Frauenzeitschriften dar. "Anspruch satt" findet man in den Gefilden der Fanzine-Highschool, die in Form und Inhalt bereits gefährlich in den Bereich der Literatur- und Kunstzeitschriften hinüberlappt. Die Zeitschrift Neid hat mit einer von der Kulturbehörde geförderten Hochglanzausgabe den zeitweiligen Sprung vom Farbkopie-Zine zur Konzeptkunst geschafft und kredenzt neben Fotoarbeiten der beiden Herausgeberinnen Ina Wudtke und Claudia Reinhardt avancierte Artikel unter anderem zu House, HipHop, Netzwerken und feministischer Theorie. Einfarbig und förderfrei dagegen versucht sich das Redaktionskollektiv der Zeitschrift Glas'z an einer Verbindung von Musik und Politik. Weil es einiges an Diskurs-, Medien- und Systemtheorie sowie ein extrem dekonstruiertes Schriften-Layout auffährt, ist es zu Recht in den StuKa's rund um den Philosophenturm auf dem Hamburger Uni-Campus erhältlich.
(...)
Sponsoring kann Spaß machen: Um die vierte Ausgabe ihres Kunstmagazins "Neid" zu finanzieren, feiern die Herausgeberinnen Claudia Reinhardt und Ina Wudtke eine Party auf der lauschigen "Insel der Jugend" in Treptow. 10 Mark kostet der Eintritt - dafür bekommt das Auge Videokunst satt, das Ohr korrekte Tanzmusik von den DJs T-INA aus New York, Ruff Cuts aus Hamburg, DJ Nurse und Benedikt Laube aus Kassel. Wer noch nicht im Besitz eines "Neid"-Heftes ist, kann die letzte Ausgabe an diesem Abend erwerben. (26. August, Insel der Jugend, Alt-Treptow 6, ab 22 Uhr)
Ein Jüngling grinst, bequem liegt er auf einer Wiese, rot ist seine Schambehaarung, Gänseblümchen blinzeln: Neid. Das Modell "Gudrun Ensslin", mit eingenähtem Tampongürtel und schlampengerechter Handfeuerwaffe, löst Schiessers "Rebell" in der Unterwelt ab: Neid. Murder is the ultimate icebreaker at parties: Neid. Die dritte Ausgabe der deutsch-/englisch-sprachigen Zeitschrift Neid, komponiert und arrangiert von der "Neid"-Posse rund um Claudia Reinhardt, Ina Wudtke und neuerdings Katharina Pfaller, fächert den kompletten Fragebogen des modernen Menschen am Ausgang des 20. Jahrhunderts zu einem aparten Artfanzine zusammen. Gibt es noch Liebe? Produziert Restspaß Monster? Who the fuck is Lothar Lambert? In "Pussy Clat Talk" zum Beispiel forschen fünf Frauen der Frage nach, ob man miteinander verschmelzen oder sich lieber selbst ein Schmalzbrot machen soll. Sagt Justine: "Das geht dann solange, bis man bei einer Person landet, wo man denkt: Da kann man es aushalten, da kann ich vielleicht gerne auf die anderen noch möglichen Dinge verzichten. Man kann eben nicht alles haben." Erwidert Maria: "Aber damit kann man sich doch nicht abfinden, oder? Ist noch Bier da?" Auch in der folgenden Ausgabe soll nun wieder in einem Ruff-Mix aus Fotografie und Zeichnung, Bericht und Interview Lesenswertes über die Schwerenöter Sex & Crime und die angrenzenden Lebensbereiche wie Totschlag und Musik präsentiert werden. Am 26. August machen Neid die Nacht zum Tag: Die Pre-Release Party mit Live-Video-Scratching, den Jungle DJs von Ruff Cuts, dem Dub Sound System Shanty Town (beide aus Hamburg), DJ T-INA (Trip Hop/Ambient aus New York), DJ Nurse (Acid Hip-House Experience aus Kassel) und vielen anderen, wird mit "Generation X", einem Video von Art Jones über eine apokalyptische Woche im Leben von Teenagern in Brooklyn, eröffnet.
Ernst Bier
Bisher hauptsächlich im Hamburger Untergrund umtriebig, will sich Deutschlands "ruffestes Artfanzine" (eigene Formulierung) "Neid" nun auch in Berlins hippen Disko-Zirkeln ein Standbein einrichten. Zu diesem Zweck veranstalten die Neid-Posse am 26.8. auf der Insel eine Party auf höchstem Metropolen-Standard. Die hanseatischen Soundsystems Ruff Cuts und Shanty Town locken mit Jungle bzw. Dub inklusiver "unverkennbarer Frequenzweichen". DJ T-Ina (sollte es sich hierbei um die Neid-Herausgeberin Ina Wudtke handeln?) reist mit ihrem Plattencase voller Ambient und TripHop-Tracks aus New York an, aus der hessischen Metropole Kassel jetten schließlich DJ Nurse und DJ Benedikt Laube nach Berlin, gut beladen mit Acid House und alten Techno-Scheiben. Damit nicht genug, gibt es - die Kunstmäuler zu füttern - auch noch reichlich Videos, Filme und Diaprojektionen. Das einzige, was es nicht gibt, ist die neue "Neid"-Ausgabe. Bevor diese mit Gender-Theorien, HipHop-Impressionen und sonstigen Diskurs-Daten vollgedruckt werden kann, muß nämlich die Redaktionskasse aufgefüllt werden. Deswegen die Party.
Johannes Waechter
"Gott liest Zap" - glaubt man der Zap-Werbebotschaft. Und wer's nicht glaubt, wird selig. Immerhin 5000 Erdenbürger kaufen alle vierzehn Tage ein Heft. Dabei hat Zap genausoviel mit Religion zu tun wie das Blatt Planet Pussy mit dem Weltraum.
Zap aus Homburg und Planet Pussy aus Hamburg sind Fanzines, nichtkommerzielle Kleinstzeitschriften, die je nach Ausgabe und Ansehen zwischen 100 und 5000 Exemplaren absetzen. Gedruckt wird, was Spaß macht. Philosophiestudent Heiko Wichmann, 28, schreibt im Hamburger Neid, dem "einzigen Magazin, wo Männer wirklich unterdrückt werden". Seine Kollegin Ina Wudtke widmet sich ihrem Faible, der Musik. Ihr Geld verdient die 26jährige, die auch noch HipHop macht und Platten produziert, als Discjockey.
Der offizielle Fanzines-Index, herausgegeben von der Kölner Popkomm-Messe liest sich wie ein Überschriftenkatalog moderner Kunst: Club der letzten Generation (Rüsselsheim), Krm Krm (Berlin), Out of Depression (Reichenau) oder Pure Fiction (Bederkesa). Der innere Schweinehund aus Erlensee, laut Impressum ein "unabhängiges Magazin für die Endphase des gesellschaftlichen Niedergangs", packt Randthemen an. Im Feuilleton rezensiert die Redaktion nach eigener Ausgkunft "auch schon mal einen leeren Jughurtbecher".
Hinter den oftmals engbedruckten Seiten der Fanzines verbergen sich mehr oder weniger talentierte Schreiber. Lizzy von Hacht, Autorin beim Frauenblatt Planet Pussy, tadelte in der Erstausgabe die Frauen von Bundesliga-Fußballspielern, Überschrift: "Tu' ihn rein, Lothar". Einige Seiten weiter kommentierte von Hacht die Magnum-Eiswerbung mit den Worten: "Frauen sind dumm. Vor allem, wenn sie blond sind. Sie lutschen an allem, was ihnen in die Quere kommt."
An die 400 Fanzines liegen an den Tresen deutscher Szenekneipen aus, in Musikclubs oder in der Unimensa. Leser werden beim Feierabend-Pils oder auf der Semesterabschlußfete geworben. Die meisten Fanzines-Verleger bringen ihre Produkte persönlich in ausgewählte Buchläden, Musikgeschäfte oder Cafés. Sie verlangen für ihre Hefte zwischen zwei und zehn Mark, Anzeigen gibt es ab vierzig Mark die Seite.
Zielgruppen sind den machern ziemlich schnuppe. Die Neid-Redaktion vermutet, ihre Leser seien "jung und kunstinteressiert". Die Pussy-Girls sagen: "Wir gehen von uns aus und von dem, was uns interessiert." Den Fanzines und ihren Fans gemeinsam ist die Liebe zum Objekt, sei es Rave, Girlies oder der FC St. Pauli. Thorsten, Leser des Leverkusener Hip Hop Magazins MZEE: "Kein Magazin der Welt informiert so ausführlich über Rap und Breakdance." Viel Handarbeit steckt in den meisten Blättern. Einzelkämpfer hämmern in wochenlanger Arbeit nach Feierabend ihre Texte in die Olympia, eliminieren Druckteufel per TippEx, kleben zwischen Pasta und Lollo Rosso die Seiten zusammen und vollenden ihr Werk kurz vor Ladenschluß im nächstgelegenen Copy-Shop. Produktionsengpässe sind den Machern ein Fremdwort. Was nicht hineinpaßt, wird geschoben. Dringende Seminararbeiten oder der kurzfristig gebuchte Last-Minute-Urlaub sind von den Lesern akzeptierte Zwänge. Das Leben geht schließlich weiter, das nächste Heft kommt irgenswann - oder auch nicht.
Die journalistische Subkultur erfanden Surfer und Skater in den Vereinigten Staaten. Anfang der achtziger Jahre teilten die Sportler einander über die Magazine ihre neuentdeckte Leidenschaft mit.
Bald schwappte die Welle nach Deutschland über. Die meisten Fanzines hier beschäftigen sich mit dem Thema Musik. David Bowie ist ein Magazin gewidmet, HipHop, Hardcore und Wave haben eigene Foren. Weil die meisten Blätter nur regional verkauft werden, wird es einer größeren Öffentlichkeit verborgen bleiben, wenn das Soltendiecker Magazin S.U.B.H. wieder einmal mit Social Beat und Punk auf die Weltrevolution verweist oder die Aachener Bierfront Schluckspechte in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden zum Kampftrinken aufruft.
Freundschaftsexemplare und Rabatte bescheren den Herausgebern leere Kassen. Subventionen von Schwiegervater, Oma oder Sponsoren helfen aus finanzieller Not. Das Budget von Planet Pussy liegt bei 5000 Mark pro Ausgabe mit 1000 Exemplaren.
Anders als in Amerika gab es hierzulande keinen Durchbruch im Magazinmarkt. Am Kiosk zwischen Stern, Madame, Music Express und Fit for Fun zu liegen bleibt den Fanzines versagt. Bei vielen Titeln ist nicht einmal sicher, daß überhaupt noch eine nächste Ausgabe erscheint. Die Fangemeinde des Hamburger Klausner-Magazins beispielsweise muß sich sorgen: Alleinmacher Kai Damkowski, 25 Jahre, "theoretisch Student der Anglizistik", trägt sich immer wieder mit Rückzugsgedanken. Bislang ohne Ergebnis: "Ich habe schon oft angekündigt, daß ich aufhöre. Aber nach zwei Wochen fange ich wieder an."
Thilo Neidhart
Mit einem ganz neuen Outfit präsentiert sich die neue Ausgabe der Zeitschrift "Neid". Nicht nur die voluminösen 120 Seiten lassen die vierte Ausgabe gegenüber den vorangegangenen auffallen. Die vielen locker reingesetzten Zeichnungen und Texte lassen darüber ein paar Schlüsse zu. Bei Neid geht es nicht um eine übliche Sorte Journalismus, sondern darum, die mit News aus Übersee, erotischen Ambitionen, flackernd freudigem Interesse für Video DJs, Penis-Häckselmaschinen und Literatur-Coverversionen gestopfte eigene Welt in einem handlichen, schön gezogenen Schwung markant zu machen.
"Viele Stimmen" will die Mitherausgeberin Ina Wudtke zum Klingen bringen. Diese Stimmen verschwimmen weder in überlangen Selbstreflexionen noch in Grundsatzerklärungsmassen. Es metaebnet nicht zu sehr und vielleicht das Schönste: man will bei vielem dabei sein, ohne daß man sich durch das Dabeisein zum Angeben genötigt fühlt. Und es beteiligen sich Leute, die sich jeweils als Fans eines Themas an selbigem abarbeiten.
Verwunderlich ist bloß, daß bei soviel Umsatz von Informationen ab und zu die Schlußfolgerungen wirken, als hätte man sich gerade eben erst in laufende Diskussionen eingeschaltet. Bei der Gegenüberstellung der Schreibweisen der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen und Mark Terkessides erging sich die Verfasserin jedenfalls in recht allgemeinen Betrachtungen. Es muß eben nicht immer gleich interessant sein, wenn man bloß dieselben Bücher kennt, wie die, über deren Terminologien man sich ausläßt.
Neid ist die Zeitschrift, die sich auf die Suche nach den Inhalten macht. Der umfangreiche Lebens/Art-Entwurf läßt vermuten, daß die Diskussionen, nachdem sie einmal irgendwo begonnen worden sind, überall und von mehr als einer, zwei, vielen "Stimmen" fortgeführt werden können. Zeitungshoffnung.
Kristof Schreuf
Penisneid? So ein Scheiß! Irdenwie haben diese komischen Typen der Psychoanalyse mächtig Quatsch gebaut. Die Freudsche Vorstellung, alle Frauen hätten einen unterbewußten Neid auf das lusche Gemächt, klingt zwar verdammt nach Angstneurose, hält sich aber gerade in wissenschaftlichen Kreisen hartnäckig. Als Ina Wudtke und Claudia Reinhardt an der Uni den Theoriekram durchkauten, haben sie sich totgelacht. Und zum Gegenschlag ausgeholt. So bekam eine Idee einen Namen, die sich seit fünf Jahren gegen alle marktwirtschaftlichen Hindernisse behauptet: das freifinanzierte NEID-Magazin, begleitende Partys, Ausstellungen und knapp 700 kostenlose Seiten im Internet, eingehackt von "Lieutenant Wichmann", ein Mann der ersten Stunde.
NEID ist wie Chemie: Ideen gehen zusammen, verdichten sich, zerplatzen und heraus kommen Outputs in fester Form. Wer ein NEID-Heft in Händen hält, findet Comics, Graffiti, Modestrecken, experimentelle Fotos, theoretische Texte und Poetry ganz liberal nebeneinander. Die NEID-Crew ist in ständiger Bewegung. Neben den Autoren der ersten Stunde arbeiten ca. 30 Leute an dem Projekt. NEID zieht auch internationale Kreise: DJ Spooky aus N.Y. hat sich schon eingeklinkt, die amerikanische Theoretikerin Judith Butler und Porno-Queen Theresa Orlowski standen NEID Rede und Antwort. "Wir kennen viele Leute, die nie freiwillig in eine Galerie kommen. Andere wiederum gehen nie auf Partys. Aber wir wollen, daß sie zusammentreffen. Außerdem haben wir alle das Problem, Teile unserer Arbeit in konventionellen Medien unterzubringen, weil sie zu deutlich oder angeblich zu offensiv sind. Deshalb gibt es NEID." Zensiert wird nichts, die Heft-Beiträge laufen bei Ina zusammen und werden gemeinschaftlich ausgesucht. Dennoch kristallisiert sich immer ein übergreifendes Thema heraus. Wie ein roter Faden geht die Frage nach Identitäten um: Grenzen von Sexualität, Gesellschaft, Moral und Medien stehen zur Disposition. Cyberfeministinnen, Modedesigner, Hard-Core-Zeichner, Musiker oder Schreiber: NEID ist durchlässig, der Inhalt schon mal widersprüchlich. So gelingt seit Jahren die selten zuwege gebrachte Umsetzung eines "transmedialen Kollektivs". Zum Erscheinen eines Heftes verknüpfen sich auf einer Party die Stränge live: Bilder, Sprache, Musik und Sound verschmelzen zu einem genialen Gesamthappening, das die üblichen Grenzen der jeweiligen Medien locker überschreitet.
Ina ist immer noch Angelpunkt des Projekts. Sie checkt die Finanzierung, kontaktet, koordiniert die Mitarbeiter und hält sie bei der Stange: für NEID arbeiten alle umsonst. Schon seit ihrem Kunststudium ist sie DJ T-Ina. Aber kein plumpes Plattenmixen, sondern Sound als Sprache: T-Ina mixt zum Beispiel live-gesprochene Gedichte oder computergesteuerte Video-Scratchings mit Musik auf.
Wie ein weiblicher DJ auszusehen hat, zeigt ein kleines Foto aus Inas Lehrbuch: blond und barbusig. Den Klischeevorstellungen der Medien, die sich nur für ein blödes Image interessieren, antwortet das Foto in klassischer NEID-Manier. Wer mehr über Inhalte wissen will, muß lesen.
Corinna Weidner
"Plattform" ist eine Ausstellung, die vor allem den Fetisch Hauptstadt inszeniert. Doch auch Schuhe sind sehr beliebte Objekte der Begierde
Susanne Klein führt ihre Schuhe vor. In raschem Wechsel werden die Paare an- und ausgezogen. Die Videokamera nimmt dabei die Beine der Künstlerin von den Knien ab bis zu den Fußspitzen ins Visier. Jedes Paar wird eingeordnet und kommentiert. Da gibt es die Kategorie schöne Schuhe, andere stammen aus der Familie der alltäglichen Schuhe, die dritten gehören unverkennbar zur Gruppe der ganz profanen Gummistiefel, obwohl sie möglichweise auch unter der Gattung Arbeitsschuhe einzuordnen wären. Jedesmal sagt Klein, wie alt die Schuhe sind, wo sie sie gekauft oder hat machen lassen, ob sie mit den Schuhen zufrieden ist, ob sie bequem sind. Aber können die schwarzen Platteaustiefel mit dem siebzehn Zentimeter hohen Absatz (Kategorie schöne Schuhe), die Susanne Klein von der Londoner Little Shoe Box bezog, bequem sein? Nein. Sie sind nur funktional.
Susanne Klein ist Schuhfetischistin. Das wirklich verblüffende Video ist im Postfuhramt an der Oranienburger Straße zu sehen. (Nachts kann man also draußen auf der Straße beobachten, wie ähnliches Schuhwerk vorbeistakst.) Es gehört aber nicht, wie man aufgrund der Öffentlichkeit vermuten könte, zum Programm der berlin biennale. Oder jedenfalls nur bedingt. Es ist Teil der NEID Videoshow, die auf der "Plattform" läuft.
Zur "Plattform" gelangt man über den Hintereingang des Postfuhramts, von der Auguststraße aus. Anders als vorne, ist hier der Eintritt frei. "Plattform" ist eine von der Kuratorin Ulrike Kremeier konzipierte, eigenständige Sektion von Berlin/Berlin. Sie will das, was sich in der biennale international kompatibel gibt, wieder auf den Standort Berlin zurückführen. Und so wird Philipp Johnsons verloren gegangenes Ohr hier wohl wieder auftauchen.
Auch High Heels können funktional sein
Als ein richtiger Fetischist des Kunstbetriebs, so läßt sich zu Klaus Biesenbachs Strategie der generösen, also mitfinanzierten Einladung sagen, läßt man ein solches Paar Schuhe nicht links liegen, sondern verleibt sie seiner Sammlung ein. Wenn man also von seiner Wanderung durch die Kunst-Werke und das vordere Postfuhramt erschöpft und voller noch ungeordneter Eindrücke ist, sollte man sich nicht in die dortige weiße, tüllumwehte Polstergruppe werfen, sondern den Weg nach hinten antreten. Dort bietet sich das weißbezogene Polsterbett der NEID-Lounge an, um entspannt eine Reihe sehenswerter Videos zu betrachten.
NEID ist ein Kollektiv von AutorInnen, PerformerInnen und Musiker-, Künstler- und FotografInnen, zu dessen Aktivitäten unter anderem die Herausgabe einer lacan-freud-lastigen Zeitschrift gleichen Namens zählt. Auch der Vorderraum ist kein eigentlicher Ausstellungs-, sondern ein Lese- und Rechercheraum. Im üblichen tautologischen, gegeninstitutionellen Jargon ("Bedingungen kultureller Produktion", "spezifische Arbeitsweisen", "konkretes Interesse", "Artikulationsterrain") wird dem Besucher erklärt, was die Absichten der "Plattform"-Koordinationspartner - außer NEID noch convex.tv, Dave Hullfish Bailey, Erik Göngrich, Tara Herbst, MIKRO, die Introgroup und die Raumerweiterungshalle - und ihrer hier dokumentierten Projekte und Veranstaltungsreihen sind.
Real muß man sie teils über die ganze Stadt verstreut aufsuchen. Das sollte man ohne Umschweife auch tun. Und trotz seines Jargons der Uneigentlichkeit sollte man auch den zehnseitigen Zeitungsflyer studieren, weil er tatsächlich alle bekannten Peripherieprojekte versammelt, Osmos, Büro Berlin, Pit Schultz und und und. "Plattform" ist zwar auch die Inszenierung des Fetisch Berlin. Aber, das muß man zugeben, er sieht hier hinten ganz anders aus als vorne. Hier greift man am besten zur Gruppe Gummistiefel, um die Wanderung anzutreten. Vorne sind die Lackstiefel okay. Manche finden Gummi geiler.
Brigitte Werneburg
Traurig sieht sie aus, die kleine Cinderella auf dem Plakat. Kein Wunder, denn die heutige NEID-Party ist auch ein Abschied: Mit der achten Ausgabe stellt das gleichnamige Magazin sein Erscheinen ein. Das heißt aber nicht, dass sich das Berliner Kunstprojekt nun ebenfalls auflöst. Im Gegenteil: "Nach sieben Jahren wird es Zeit, etwas Neues zu versuchen", sagt Organisatorin Ina Wudtke. Zumal hinter dem Markennamen NEID - nur echt mit dem Krönchen - mehr als eine Zeitschrift steckt. Die Gruppe, ein loser Verbund aus 20 Künstlern, sieht sich selbst als "transmediales Kollektiv". Grenzen überschreiten, Bilder, Texte, Musik kongenial verknüpfen - mit dieser Mischung war die NEID-Crew schon in Zürich, N.Y. und auf der Berlin-Biennale erfolgreich.
Gegründet 1992 in Hamburg, bot NEID - frei nach Freud assoziiert - jungen Künstlern eine Plattform für ihre Arbeiten. Zum (krönenden) Abschluss sind nun alle Ausgaben auf einer CD-Rom versammelt. "NEID@Home" ist auch ein Rückblick auf ein Stück Berliner Untergrund-Kunst: Rau, widersprüchlich und sehr subjektiv ist die Mischung aus Experimental-Fotos, Comics, Theorie und Poesie. Dazu kommen Interviews, etwa mit der feministischen Theoretikerin Judith Butler oder Porno-Queen Theresa Orlowski.
Alle Autoren - koordiniert von Herausgeberin Ina Wudtke - arbeiten unentgeltlich. Die Auflage von 1000 Exemplaren finanzieren Verkauf und Fördergelder. "Am meisten haben wir in die Fotos investiert", sagt Ina Wudtke. Es sind die aufwendig arrangierten, oft provokant-aggressiven Frauenporträts mit viel nackter Haut, die die NEID-Ästhetik ausmachen.
Manchmal jedoch greifen Ironie und Kritik zu kurz: Eine gestellte Anzeige etwa, die für Damenunterwäsche Marke Gudrun Ensslin wirbt - komplett mit Tampon-Gürtel und Handfeuerwaffe - unterscheidet sich kaum noch von der allgemeinen Vermarktung von Kitsch, Camp und Trash. Zeit also für neue, frische Ideen.
Zunächst jedoch kehrt das NEID-Kollektiv noch einmal in die Galerien zurück. Die "NEID@Home"-Retrospektive im Künstlerhaus Bethanien versammelt Arbeiten der Gruppe und ihrer Gäste: Karen Simonson (GB) etwa hat den NEID-Frauen ein Kleid aus rotem Tüll gebastelt, Bettina Hoffmann (B) projiziiert kleine, krabbelnde Menschen an die Decke und FeedBuck Galore aus New York untermalen alles mit Musik. Für die Partystimmung im Maria am Ostbahnhof sorgt dann Ina Wudtke alias DJ T-Ina. Mit ihrer Mischung aus House und Swing ist die 31-Jährige jeden Mittwoch auf dem Piratensender "Twen FM" zu hören. Neben der Produktion von Mini-CDs mit Musik und Poetry sind weitere Partys der NEID-Posse geplant. Also kein Grund zur Trauer, kleine Cinderella!
Kerstin Rottmann
Tobias Nagl