"Retro-Techno - zur Kulturgeschichte des Elektronischen Klangs"


Techno - die explosive Entwicklung einer populären Musikform, die fast ausschließlich auf synthetischen Klängen beruht, hielten die meisten Musikfachleute vor zehn Jahren noch für unvorstellbar. Elektronische Tanzmusik als subkultureller Konsumartikel, kaum ein schärferer Kontrast scheint denkbar zu dem lange gängigen Vorurteil, elektronische Musik sei notorische Minderheitenmusik und wegen ihres synthetischen Charakters für ein breiteres Publikum ungenießbar. Der erstaunliche Erfolg des Phänomens Techno löst nicht nur zunehmend irritierte Faszination auch in intellektuellen Kreisen aus, sondern eröffnet auch neue Perspektiven auf die Geschichte des elektronischen Klangs, die auch eine Geschichte sich verändernder Wahrnehmungsweisen ist.

Retro-Techno - auf den ersten Blick klingt dieser Titel widersprüchlich, zusehr sind wir gewohnt, den Begriff Technik mit Fortschritt in Verbindung zu bringen. Doch in gewiser Weise ist es der Techno-Bewegung tatsächlich gelungen, den technologischen Fortschritt, von dem sie selbst profitiert, stellenweise umzukehren. Mit der Renaissance bestimmter analoger Synthesizer wie dem legendären ,Roland 303', die eigentlich schon als technologisch überholt galten, ist wohl zum erstenmal der Fall eingetreten, daß ein elektronischer Konsumartikel nach einer Periode des Preisverfalls in kurzer Zeit einen über dem alten Ladenpreis liegenden Sammlerwert erhielt. Seitdem ist ein wachsendes Interesse auch anderen elektronischen Vorläufern zu verzeichnen. Besonders das Theremin hat ein gewisses Revival erlebt und wird mit seinen ätherischen Glissandi heute von Gruppen wie Portishead wieder verwendet. Besonders die futuristische Art der Klangsteuerung ist es, die diesem Instrument einen Touch von Science Fiction verleiht: sie erfolgt nicht über eine Tastatur sondern unmittelbar durch Bewegungen der Hände im Feld einer Antenne und wirkt damit wie eine frühe Vision des modernen Data-glove.

Das war allerdings kaum der Grund dafür, daß sich das Theremin, das in den zwanziger Jahren von dem sovjetischen Erfinder Leon Termen konstruiert worden war, im Gegensatz zu anderen Erfindungen seiner Zeit jahrzehntelang behauptete konnte. Seine Spieltechnik war nämlich keineswegs einfach zu beherrschen, doch hatte es den Vorzug, einen erstaunlich geigenähnlichen Klang zu besitzen. Es ist damit symptomatisch für eine Tendenz, die jahrzehntelang beim Bau elektronischer Musikinstrumente vorherrschte: den Klang herkömmlicher Musikinstrumente zu imitieren, oder zumindest ihre Charakteristik nachzuempfinden. Der Kanadier Hugh LeCaine, der in den Fünzigern den ersten Vorläufer des Synthesizers entwarf, formuliert in seiner Biographie das zentrale Problem: "was unterscheidet einen musikalischen Klang von einem unmusikalischen?" Diese Frage ist jedoch nicht nur eine technische, sondern ebenso eine kulturell-ästhetische.

Die elektronischen Experimente der Nachkriegszeit erbrachten zunächst überwiegend Ergebnisse, die im herkömmlichen Sinn als unmusikalisch galten. Die Komponisten reagierten auf diese Tatsache unterschiedlich: Auf der einen Seite wurde versucht, den synthetischen Klangcharakter musikalisch auf humoristische Weise aufzufangen, so bereits in manchen Kompositionen von LeCain. Gershon Kingsley, der mit ,Popcorn' bekannt wurde, nachdem er zuvor mit John Cage zusammengearbeitet hatte, führte diese Tradition in den Sechzigern weiter, ebenso wie der Moog-Virtuose Jean-Jacques Perrey, dessen Aufnahmen gerade auf CD wiederveröffentlicht werden. Andererseits entwickelte sich in den subventionierten Nischen elektronischer Studios ein Ansatz, der die ,unnatürlichen' Eigenschaften der elektronischen Klänge in den Dienst abstrakter Kompositionstechniken stellte. Technisch bedingt, unterschieden sich die klanglichen Resultate allerdings nicht allzusehr von dem Genre, in dem die Elektronik vorerst ihr ideales Terrain fand: dem Science-Fiction Film, der gerade solch unnatürliche und maschinenhafte Klänge benötigte - der Soundtrack zu "Forbidden Planet" von 1956 wurde zu einem Klassiker. Die elektronische Weltraum-Mythologie, die ursprünglich wohl auf der akustischen Erfahrungswelt des Kurzwellenradios gründete, erfuhr um 1970 einen Höhepunkt durch die historische Koinzidenz von bemannter Raumfahrt und der Entwicklung tragbarer Synthesizer. Die Moog-Experimente des Jazzmusikers Sun Ra aus dieser Zeit klingen wie Science-Fiction-Musik ohne Film.

Dem Traum vom dienstfertigen Haushaltsroboter, als kleinbürgerlicher Kehrseite des Weltraumzeitalters, entsprach die Heimorgel, die zur gleichen Zeit den breiten Konsumentenschichten nahegebracht wurde: als elektronische Wundermaschine, die musikalische Selbstverwirklichung für Jedermann verspricht. Nachdem sie mittlerweile wieder aus den Wohnungen verschwunden ist, entdecken manche nun, im Zeitalter der gesichtslosen Soundmodule, den Reiz ihrer möbelhaften Materialität wieder. So hat der amerikanische Hip-Hop-Musiker Money Mark mit seinem Projekt "Mark's Keyboard Repair" eine Serie brüchig-atmosphärischer Studien über den Charme alter Heim-Keyboards geschaffen. Auf dem Orgelsektor spielte der Nostalgiefaktor allerdings schon früher eine Rolle: als ,Hammond' von photo-mechanischer auf elektronische Klangerzeugung umstellte, vermißten viele den typischen Schalt-Klick des veralteten Systems, sodaß dieser nachträglich als elektronische Simulation wieder hinzugefügt wurde.

Die Techno-Generation nun scheint die Versprechungen der Heimorgel-Werbung auf unerwartete Weise wahr gemacht zu haben. Jahrzehntelang versuchten die Klangdesigner, den Klang natürlicher Instrumente nachzubilden, während die elektronischen Avantgarde-Komponisten an der Rationalisierung musikalischer Strukturen arbeiteten. Techno kehrt beide Tendenzen um: gerade das "unnatürliche" des Klangs dient zur Stimulanz, während die Struktur quasi biorhythmisch wird und sich ergonomisch den Tanzbedürfnissen anpaßt. In der Techno-Asthetik kommt ein Wandel in der Einstellung gegenüber dem Phänomen der Künstlichkeit zum Ausdruck, ein Schritt von der Abwehr zur Einverleibung. Seitdem die digitalen Imitationen realer Klänge kaum mehr vom Original zu unterscheiden sind, scheinen sie an Reiz verloren zu haben - ein Sachverhalt, der auch den Apologeten der ,Virtual Reality' zu denken geben könnte.

Hans Kroier, Berlin, Juli 1996


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