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        KUNST  
         
          
        ein Artikel von Wolfgang Seidel über Conrad Schnitzler 
             erstveröffentlicht: Jungle 
        World; 12 Mai 2004 -  
             hier publiziert mit freundlicher Genehmigung des Autors 
         
         
        In Berlin kann man Klavierarbeiten der Kraut- und 
        Freerock-Legende Conrad Schnitzler hören.  
         
        Eine Geschichte, die Conrad Schnitzler gerne erzählt, ist die von 
        Glenn Gould. Der gefeierte Klaviervirtuose sei enttäuscht von seinen 
        eigenen Kompositionsversuchen gewesen, bei denen er sich immer dabei ertappte, 
        in das Fahrwasser der eingeübten Figuren der großen Vorbilder 
        zu rutschen.  
        Ein Problem, das Schnitzler, der auf keine musikalische Ausbildung verweisen 
        kann, nie hatte. Als er das Klavier für sich entdeckte, begann eine 
        lange Forschungsreise durch die Welt der Klänge, bei der er seine 
        eigenen Karten gezeichnet und einen eigenen Kompass entwickelt hat.  
         
        Diese Odyssee begann Anfang der Fünfziger mit einer Lehre als Maschinenbauer. 
        Das polyrhythmische Schaben, Kreischen und Hämmern in der Werkshalle 
        lieferte die Initialzündung für die eigene Beschäftigung 
        mit Musik. Der schönste Moment des Tages war dennoch das langsame 
        Ersterben dieser Geräusche am Feierabend, wenn nacheinander die Maschinen 
        ausgeschaltet wurden – als hätte ein Remixer virtuos die Mute-Tasten 
        seines Mischpultes bedient.  
         
         
        Die zweite prägende Hörerfahrung Schnitzlers waren die wenigen 
        damals existenten Radiosendungen, die Jazz und Avantgarde spielten. Diese 
        liefen, um den Normalbürger nicht zu verschrecken, meist spät 
        am Abend und ließen ahnen, dass es noch eine Welt da draußen 
        gab, die anders war als der graue deutsche Nachkriegsalltag. Um diesem 
        zu entfliehen, schipperte Conrad Schnitzler nach der Lehre sogar erst 
        einmal mit einem Seelenverkäufer um Afrika herum. Die christliche 
        Seefahrt war in den Fünfzigern neben der Fremdenlegion einer der 
        wenigen Wege, der deutschen Nachkriegstristesse zu entkommen.  
         
        Die erste überlieferte Begegnung Schnitzlers mit dem Klavier war 
        auf einem Happening seines Lehrers Joseph Beuys in der Akademie der Künste. 
        Sie endete mit der Ausstellung der Überreste des Instrumentes in 
        der Galerie Block. Bei Beuys hatte Schnitzler zu studieren angefangen, 
        als dieser seine Klasse für alle öffnete, ohne den Studenten 
        die üblichen Zeugnisse und Prüfungen abzuverlangen, woraufhin 
        er bekannterweise prompt wegen dieses Verstoßes gegen die akademischen 
        Regeln aus der Hochschule geschmissen wurde.  
         
        Allerdings blieben Schnitzler, der die Welt als Seemann und Arbeiter erfahren 
        hatte, jede esoterisch aufgeladene Bedeutungshuberei und der Möchtegern-Schamanismus 
        von Beuys völlig fremd. »Ich bin Handwerker. An einer Horizontalbohrmaschine 
        ist nichts Heiliges. Da geht es darum: Was kann die, wie funktioniert 
        die?« Mit dieser Einstellung ging er auch an die eigene Kunst heran. 
        Fremd war ihm auch die »Kunst muss der Arbeiterklasse dienen«-Rhetorik 
        der studentischen Linken. Seine Kunst diente dennoch einem Vertreter dieser 
        zu befreiendem Klasse – ihm selber.  
         
        Anfang der Sechziger hatte es Conrad Schnitzler nach Berlin verschlagen, 
        zum Sammelpunkt aller, die im Schaffe-Schaffe-Häusle-Baue-Deutschland 
        keinen Platz hatten und die vom fehlenden Wehrdienst und der seit dem 
        Mauerbau vom Bund alimentierten Geisterökonomie West-Berlins angezogen 
        wurden. Schnitzler wechselte von der bildenden Kunst zur Musik. Seine 
        erste Gruppe hieß programmatisch Geräusche. Geräusche 
        – mehr stand auch nicht auf den Flyern – außer Zeit 
        und Ort des Auftritts. Die weiteren Stationen Schnitzlers waren Tangerine 
        Dream, Kluster (die späteren Cluster) und Eruption, bis er sich zurückzog 
        und eine lange Solo-Laufbahn abseits aller Verwertungszwänge einschlug, 
        die ihn zu einem der produktivsten Akteure der Elektronik-Szene werden 
        ließ.  
         
        1969 gründete Conrad Schnitzler zusammen mit einigen Freunden das 
        Zodiak, einen Club mit dem Untertitel »Free Arts 
        Lab«. Hier trafen sich Free Jazz, Blues und Elektronik. Die Hausband 
        und Nachfolger von Geräusche war Human Being, zu denen inzwischen 
        unter anderen Boris Schaak, Hans-Joachim Roedelius und Dieter Moebius 
        (beide später Cluster) gestoßen waren.  
         
        Diedrich Diederichsen schreibt im Booklet der CD »M.N.D. – 
        Westberliner Stadtmusik 1969«: »Die Band – Norbert Eisbrenner, 
        Werner Goetz und Sven Ake Johansson – bewegte sich damals im Umfeld 
        des Zodiak, einem Ort der für Berlin und die kommende deutsche elektronische 
        Avantgarde – vor allem Cluster, Tangerine Dream und den unermüdlichen 
        Conrad Schnitzler – dasselbe bedeutete wie das Ufo für die 
        Welt der frühen Pink Floyd und Soft Machine.« Auch Holger Meins, 
        Bommi Baumann, der durch seinen Schiss vor den Richtertisch berühmt 
        gewordene Karl Pawla und die Umherschweifenden Haschrebellen zählten 
        zu den Gästen des Zodiak, dieses seltsamen Ortes unter den Räumen 
        der Schaubühne und schufen eine seit damals vielleicht nicht mehr 
        erreichte Einheit von Kunst und Politik.  
         
        Wenn Diederichsen das zeitgleiche New Yorker Jazz Composers’ Orchestra 
        mit u.a. Cecil Taylor als etwas beschreibt, »wo sich für kurze 
        revolutionäre Momente die Linken, die Afrozentrischen und die Hipster 
        des Free Jazz zusammenrotteten«, gilt das auch für die Szene 
        um das Zodiak herum. Ihr Vorbild war jedoch weniger der Free Jazz als 
        vielmehr Musik von Gruppen wie der britischen AMM oder Nuova Consonanza 
        aus Italien. Was Schnitzler mit seiner Band im Zodiak erzeugte, war »Musik 
        von Unbefugten.« Denn die wenigsten konnten ein Instrument spielen. 
        Sie waren keine Musiker, aber Künstler. Viele der Akteure kamen aus 
        der bildenden Kunst. Schnitzler selber, aber auch Markus Lüppertz, 
        K.H. Hödicke und Bernd Zimmer.  
         
        Zum Proben traf man sich in der Stephanstraße in Berlin-Moabit im 
        Parterre. Darüber wohnte die Kommune 1 und jeder, der zur Tür 
        hereinschaute, egal ob er ein Instrument spielen konnte oder nicht, machte 
        mit – was selbst den Free-Jazzern zu viel war. Auch für die 
        Hippie-Bongo-Fraktion, die beim Smoke-In im Tiergarten mit der Band jammte 
        und die Schnitzler ohnehin immer hasste, war das zu starker Tobak. Und 
        während sich die meisten Elektroniker in sphärische Wohlklänge 
        flüchteten, zeitweilig vermarktet als Musik der »Kosmischen 
        Kuriere«, ist Schnitzlers Musik etwas, wo New Age-Fans eine Herzattacke 
        riskieren. Dabei ist sie gleichzeitig auch weit entfernt von dem, was 
        unter der Überschrift Noise dargereicht wird. Dafür ist zu viel 
        Struktur in ihr.  
         
        Conrad Schnitzler ist ein intermedialer Künstler, der Erfahrungen 
        und Arbeitsweisen von einem Medium auf ein anderes überträgt. 
        Intermedia meint für ihn aber etwas anderes als Mixed-Media. Er trennt 
        die Medien streng und versucht nicht, dem Verständnis seiner Musik 
        durch optische Effekte entgegenzukommen. Selbst Titel für seine Musik 
        hat er fallen gelassen, um dem Hörer nichts vorzugeben, was er mit 
        der Musik zu assoziieren hätte. Er soll selber hören und entscheiden 
        – weswegen eines von Schnitzlers Lieblingsprojekten »music 
        in the dark« ist. Licht aus – da bleibt nur noch das Hören. 
         
         
        Was aber zieht jemanden wie Schnitzler zum Klavier? Nach den unendlichen 
        klanglichen Möglichkeiten der Elektronik und der Befreiung von den 
        zwölf Tönen der Oktave erscheint das Klavier erst einmal als 
        eine Einschränkung. Die Herausforderung jedoch bestand darin, die 
        in den langen Jahren des Arbeitens mit tonal völlig ungebundenen 
        elektronischen Klängen gefundenen Ordnungsprinzipien auf ein Instrument 
        zu übertragen, das, anders als z.B. das Saxofon mit seinen Artikulationsmöglichkeiten, 
        klanglich festgelegt ist und als einzige Ausdrucksmöglichkeit die 
        Beziehungen der Töne zueinander bietet. Das Werkzeug für dieses 
        Forschungsprojekt ist ein Klavier, dessen Tasten von computergesteuerten 
        Elektromagneten bewegt werden. Das setzt den Komponisten in die Lage, 
        ohne Rücksicht auf die physischen Grenzen eines Pianisten aus Fleisch 
        und Blut zu komponieren und macht ihn auch frei von einstudierten, gedrillten 
        Bewegungsabläufen.  
        Vom 14.–21. Mai kann man Conrad Schnitzlers Klavier-Arbeiten in 
        der Galerie Zero in Berlin hören.  
        © Wolfgang Seidel | 4/2004  
         
       
       
       
        
           
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