Ina Wudtke

Gespräch mit Diedrich Diederichsen

Recherche zu HipHop in Deutschland (Ende 1992)

nicht gedruckt

Neid: Meinst Du, daß man eine Ästhetik der Jugendkulturen nicht mehr mit einer Ideologie verknüpfen kann?
D. Diederichsen: Bei bestimmten Sachen, die eindeutig codiert waren, kann man nicht mehr davon ausgehen, daß sie eindeutig codiert sind. Die alte Linke hat man ja insofern kritisiert, daß man sagte: In Eurem Weltbild gibt es nur eine Möglichkeit des politischen Subjekts, und das ist die Arbeiterklasse. Es ist aber doch hier der offensichtliche Beweis, daß es auch andere soziale Lagen gibt, die politische Subjektivität hervorbringen, die von Interesse sind, wie z.B. Jugend, also jung-sein, schwarz-sein, Frau-sein, wasweißichnichtalles.
Und dieser Punkt, daß sozusagen eine politische Subjektivität entsteht, die sich sozusagen in ein linkes Projekt integrieren läßt, das ist nicht nur in Deutschland nicht mehr gewährleistet.
Neid: Mir kommt es so vor, als ob Du das aus dem Fernsehen hast, denn ich glaube eigentlich daran, daß man immer noch ganz genau sagen kann, wie die Leute drauf sind.
D. Diederichsen: Hast Du den letzten Spiegel gesehen?
Neid: Nee.
D. Diederichsen: Im letzten Spiegel ist noch mal 'n Foto von Rostock, und da sind Leute drauf, die eindeutig B-Boy-Style drauf haben, also in allen Aspekten. Das sind halt Leute, die das Heim in Rostock angezündet haben. Also, daß sich Leute über Rostock differenzieren lassen, bezweifel ich gar nicht, nur nicht mehr in Bezug auf die Unterscheidung zwischen linken und rechten Widerstand. Und was ganz global ist: In den letzten 20 Jahren ist der Riot, das Ereignis, der Aufstand - also alles, wo das Volk spontan etwas tut - in der linken Folklore sagichmal immer eindeutig codiert gewesen. Und das war schon immer falsch. Es war schon immer 'ne falsche Wahrnehmung oder 'ne ideologische Wahrnehmung...
Neid: Ja, das hat man ja gesehen, was aus den 60er-Jahre-Bewegung geworden ist, das sind heute die...
D. Diederichsen: Das ist ja egal.
Neid: Da müssen ja auch 'ne Menge Leute dabei gewesen sein, die nicht links gewesen sind.
D. Diederichsen: Nee, das ist kein Einwand. Man kann ja sagen, das hat sich später alles so entwickelt, aber es geht ja um das "Event", die Individuen, da pfeif ich erstmal drauf, aber der "Event", die Spontaneität eines "Event" setzt etwas frei, eine Art von Energie, das ist linke Energie. Das ist ja so ein Standort, gar nicht mehr weiter drüber nachgedachte Grundbehauptung. Diese Behauptung war schon immer problematisch, aber man hat nicht weiter drüber nachgedacht, weil man nicht mußte und weil's auch 'ne ganz bequeme Vorstellung war. Bequemes Ideal.
Und nun ist die Situation so, daß man das noch mal überdenken muß, diesen ganzen Kult des Spontanen, Ereignishaften. Auch im Zusammenhang mit Techno und im Zusammenhang mit den ganzen Partykulturen.
Neid: Siehst Du das als Konsequenz von einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung? Würdest Du da Indizien finden, die das erklärbar machen?
D. Diederichsen: Die gibt es auch, die weist auf etwas hin, die gibt mir zu denken. Es ist nämlich nicht so, daß dies durch ein Problem entstanden ist, sondern die Entwicklung spitzt sich zu. Rostock hat die Lage eindeutig verschärft. Man hätte sich diese Frage auch schon vorher schon mal stellen können, aber man hat sie sich nicht gestellt.
Neid: Was man ja auch sehen muß ist, daß diese Generation ja eindeutig auf Eltern der 60er/70er-Jahre reagiert.
D. Diederichsen: Das tat Punk auch schon.
Neid: Ja, das stimmt. Ein Beispiel ist Markenklamotten als direkte Reaktion auf Jutetaschen. Vielleicht ist das auf anderen Ebenen auch so.
D. Diederichsen: Damit hätte ich keine Probleme, weil diese Verliebtheit in Waren bei Jugendkulturen immer absurd und grotesk ist. Es ist im Grunde genommen ja eine ständige Aufdeckung der Tatsache, daß eben Warenförmigkeit nicht heißt Gebrauchswertform, sondern: daß die Ware etwas Perverses ist, grundsätzlich fetischistischen Charakter hat. Das ist ja einfach nur so, daß Jugendkulturen diesen Aspekt völlig offen ausleben, während so im allgemeinen gesellschaftlichen Konsens so getan wird, als wären Waren in erster Linie noch Gebrauchsgegenstände, meinetwegen auch Statusgebrauchsgegenstände. Meinetwegen auch als würde immer noch ein vernünftiges Verhältnis bestehen zwischen der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit zum Erwerb einer Ware und der Ware und ihrem Gebrauchswert - als wäre da irgendwo eine vernünftige Beziehung. Und da ist keine vernünftige Beziehung, da ist eine perverse Beziehung, immer schon gewesen. Und Jugendkulturen leben das offen aus, und deswegen ist das für mich nie 'n Problem gewesen. Das spielt auch auf 'ner anderen Schiene.
Neid: Stimmt, Du schreibst in Verbindung zu Kulturen, die andere Kulturen aufsaugen (jetzt speziell HipHop, was mich am meisten interessiert) oft von Mißverständnissen, sowohl im negativen wie im positiven Sinne. Könntest Du das beschreiben?
D. Diederichsen: Das beste bzw. das klassischste ist die Geschichte der Coolness...
Neid: Diese Männlichkeitssache...
D. Diederichsen: Die schwarze Coolness, die erste Coolness hatte eine ganz bestimmte Funktion, also es war so eine Art Ich-stelle-mich-außerhalb oder Ich-habe-eine-Distanz-für-das-was-hier-um-mich-herum-für-wichtig-gehalten-wird (auch zu der Sprache, in der darüber gesprochen wird und in der diese Wichtigkeiten erklärt werden). Ich dreh mich beim Konzert um (wie Miles Davis' berühmteste Geste) oder nehme Dinge und Gesten, die allgemein für wichtig gehalten werden, demonstrativ nicht ernst. Es wird unterschwellig gesagt, die Bedrängtheit der Lebensverhältnisse, die unter besonderem Zwang stehenden Lebensverhältnisse, akzeptier ich nicht. Gerade in sozial benachteiligten Lebensverhältnissen kannst Du Dir Coolness am allerwenigsten leisten. Du mußt ständig Entscheidungen fällen, wach sein. Du kannst es Dir nicht leisten, abwesend zu sein, oder etwas nicht ernst zu nehmen. So. Dieser Habitus kommt dann hier an. Kommt natürlich über Kunstprodukte hier an und paßt hervorragend zu einem bestimmten snobistischen Habitus der bürgerliche Jugendlichen immer ausgezeichnet hat. Mit dem sich der bürgerliche Jugendliche immer gegen proletarische Jugendliche abgegrenzt hat. Die Dandygeschichte. Also, da wird Coolness rezipiert und bekommt eine völlig andere Bedeutung. Das ist nur ein Beispiel für'n Mißverständnis. Es müssen ja auch Mißverständnisse sein, da schwarze Kultur immer ethnozentrischer geworden ist, sich zunehmend mehr an sich selbst gerichtet hat. Mal abgesehen von einer Entwicklung in den 60er-Jahren, wo es anders war als in den 50ern, 70ern, 80ern. Das, was alles konnotiert ist und was innerhalb der Community verständlich ist, kann gar nicht alles auf 'ner Massenebene verstanden werden. Das können sich 'n paar Interpreten leisten. Die Frage ist also, was man damit macht. Und meine idealistische oder utopistische Argumentation war immer die, zu sagen: Dadurch, daß sich die Leute in irgendeiner Weise gezwungen fühlen, dazu zu tanzen, dadurch greifen sie automatisch was auf von Widersprüchen des Weltwirtschaftssystems, die normalerweise durch die offizielle Kultur ausgeblendet werden. Weil das Weltwirtschaftssystem versucht ja, segregationistisch zu sein und zu trennen; und diese Trennung wird dadurch aufgehoben. Das ist die optimistische Lesart daran. Egal, ob es jetzt ein Mißverständnis ist, auf jeden Fall brummt irgendetwas im Hintern, was von einem Widerspruch spricht.
Und die pessimistische Lesart, die genauso wahr und genauso falsch wie die andere ist, ist: In dem Moment, wo es ein Mißverständnis ist, es sozusagen nur eine Energie ist, die ankommt, die hat keinen Namen und keine Bedeutung, die kann für alles eingesetzt werden, für Gutes und für Schlechtes, das ist völlig egal. Die Energie ist wie ein reiner Kraftstoff, soziale Energie, die ist halt stundenweise codiert und wirksam.
Neid: Könntest Du Dir vorstellen, daß Jugendkulturen mal als solches, wie wir sie heute kennen, überwunden werden? Wie z.B. sich das im Techno schon abzeichnet?
D. Diederichsen: Na, diese Tendenz gibt es eigentlich auch schon länger, und zwar einfach schon dadurch, daß immer mehr Leute überhaupt nicht mehr aufhören, in einer Jugendkultur zu existieren. Das ist zum Teil auch wirtschaftlich bedingt, also Leute, die sich in so 'ner Schattenökonomie bewegen, bei denen die Integration in irgendwelche bürgerlichen Karrieren einfach nicht stattfindet. Das zeichnete sich schon in den 70ern ab. In den 60ern gab's das nicht.
[...]
Das ist auch so eine Sache von einem Bewußtwerdungsprozeß und der Zeit, in der sie ablaufen. Daß es immer denjenigen gibt, der noch gute Gründe hat, zu versuchen, sein Recht einzuklagen. Und denjenigen, der schon soweit ist, daß er daran nicht mehr glaubt. Und wenn man die beiden trennen würde und diese aufeinanderhetzen würde, dann hätte man in der Tat die Art von Spaltung, die man gerade nicht gebrauchen kann. Ich finde die Argumentation akzeptabel. EB sieht das ja ähnlich.
Aber in den USA ist es ja soweit wie KRS-One auch sagt: wir sind nicht african american, sondern wir sind africans. Also da ist die Enttäuschung schon so weit, daß eben nur noch Revolution bleibt als Konsequenz.
[...]
Neid: Du sagst jetzt also, AC ist autobiographisch. Ich überlegte, ob Rap-Texte eher eine Konstruktion von Geschichte sind, wie die deutsche Szene das z.B. sieht. Ich habe mich gefragt, ob man das so sagen kann, daß Rap autobiographisch ist. Mir kam es so vor, als ginge es zumindest in den USA nicht um Authentizität. Wohl aber in Deutschland, vielleicht von der Punkszene hergeleitet.
D. Diederichsen: Nein, das ist immer so ein Punkt bei Jugendkulturen, daß sie etwas für authentisch halten, weil sie nämlich die Verfälschung woanders entdecken. Und deswegen ist der Rekurs: das, was man entgegensetzt, wird dann immer authentisch. Und irgendwann findet man dann heraus, daß alles konstruiert ist. Und findet sich an dem Punkt ein, wo man die gute Konstruktion gegen die schlechte Konstruktion setzt.
Aber der Aspekt des Autobiographischen geht noch viel weiter. Also, das müßte man noch etwas anders beschreiben, weil ich gar nicht mal so sehr glaube, daß Rap autobiographischer als andere Popformen ist. Der Folksong ist extrem autobiographisch gewesen, Blues ist autobiographisch gewesen, eigentlich viel mehr als New School Rap. New School Rap fängt ja in dem Moment, wo es politisch wird, an, von Allgemeinheiten zu reden. Nur was mir extrem auffällt, ist, daß auch die ganze afroamerikanische Theorie sehr autobiographisch ist. Sie ist einerseits sehr autobiographisch und andererseits extrem dialogisch. Also fast jeder Text geht auf einen anderen Text ein, und zwar meist in dem Sinne von persönlicher Bekanntschaft.
Neid: Sprichst Du damit die Sache von Oral Culture an?
D. Diederichsen: Die Intellektuellen, die in irgendwelchen Akademien sitzen, haben ja gar nichts damit zu tun. Aber die beziehen sich darauf natürlich, die miemen das sozusagen auch. Und es hat natürlich auch was zu tun mit ihrer Kindheit oder so. Man muß aufpassen, es ist natürlich keine primitive orale Kultur, sondern eine oraltechnologische. Und die ist eben nicht nur eine, die in der schwarzen Kultur auftaucht, sondern eine allgemeine Entwicklung in der gesamten westlichen Welt hin zu einer oraltechnologischen Kultur weg von der Schriftkultur. In Bezug auf die Sprache ist es ja Tatsache, daß alle Leute auf Symposien rennen, anstatt sich die Bücher der Leute durchzulesen. Aber der spezifische Aspekt des Autobiographischen in der african american Kultur - der hat sicher damit zu tun, daß eigentlich jeder, der heute 40 ist, wenn er nicht in 'nem integrierten Viertel aufgewachsen ist, von denen es nicht allzu viele gibt, mit Restbeständen von Oral Culture aufgewachsen ist. Und diese Restbestände von Oral Culture verstärken sich durch das Fernsehzeitalter. Und das ist ja auch eines der Geheimnisse des Siegeszuges schwarzer Kultur in der amerikanischen Massenkultur. Weil die Fernsehbedingungen der Oral Culture sehr ähneln.
Neid: In Amerika gehen Rapper ja anscheinend bewußt reflektiert mit Rollen um?!
D. Diederichsen: Ja, also das ist kompliziert. Zum einen gibt es eine der spezifisch deutschen Kultur nachweisbare Idee von Identität, die es in anderen Kulturen nicht gibt, die in anderen Kulturen sozusagen überwunden sind. Es gibt ja eine deutsche Tradition, das Zivilisatorische abzulehnen, das ist ja eine rechte deutsche Tradition, die ja auch vom Nationalsozialismus mitbenutzt worden ist. Wenn man z.B. anfängt, den "echten" Deutschen mit Blutgruppenuntersuchung festzustellen. Es gibt ja keine Authentizität, deswegen sieht man auch immer sofort, wo es nicht stimmt. Aber zumindest die Linken haben das Problem auch immer gehabt, also authentische Proletarier verherrlicht. Oder [das Franzosen/Deutscher Bsp.]
Das ist so die eine Seite, die andere Seite ist die, also wenn man schwarze Kultur, die HipHop-Kultur zurückführt auf Signifying, was ja von Anfang an ein parodistischer, distanzierender Gestus war, [...]
Den Ausdruck Signifying gibt es in der schwarzen Alltagssprache schon seit über 200 Jahren. Signifying heißt im schwarzen Gebrauch parodistisches, distanzierendes Reden. Und zwar Mißtrauen gegen die Sprache, die wie man ja leicht erklären kann, eine aufgezwungene, fremde war. Und das ist natürlich ein bestimmter Umgang mit der Form, der sich bis heute im Umgang mit HipHop fortschreibt. Und im HipHop durch die technologische Seite am HipHop, nämlich Sampling, sozusagen auch noch die idealen Medienbedingungen hat.
Auf der anderen Seite ist es ja so, daß es auch im HipHop Authentizitätsgerede gibt und zwar parallel dazu. Das schließt sich nicht aus. Obwohl es sich widersprechen müßte, und die Erklärung ist recht einfach.
Neid: Sister Souljah?
D. Diederichsen: Alle! Es heißt doch immer the original gangster u.s.w. Und das läßt sich dadurch erklären, daß eben innerhalb der Distanz, in diesem Verhältnis sich natürlich wieder ein Gefühl entwickelt, das sich für authentisch, für eigen hält.
Neid: Ja, ich frag mich auch, ob das auf Dauer geht, nur so tun als ob. Erst hängt man sich Ikonen um, irgendwann ist man dann das, was man vorgab zu sein.
D. Diederichsen: Ja und Nein. Man muß doch unterscheiden. Es gibt ja Leute, die haben die Sinead O'Connor-Position ("wenn echte Tränen fließen, ist es echt"). Und das ist ja ein Unterschied zu Leuten, die sagen: wenn ich in einer bestimmten parodistischen Weise spreche, ist es echt.
Neid: Die Distanz mit einbeziehen...
D. Diederichsen: Aber es ist ja schon eine fortschrittliche Position, die das echte, nicht hintergehbare Eigene als etwas bezeichnet, was in sich schon mal wieder Eigenheit und Echtheit ausschließt. Das ist nämlich das interessante am Signifying. Natürlich fühlt man sich, solange man mit normalem Bewußtsein rumrennt, irgendwie mit sich selbst identisch. Auch wenn das philosophisch hoch problematisch ist, sich mit sich selbst identisch zu fühlen. Allein die Zellen tauschen sich dauernd aus. Und überhaupt Identitätslogik 'ne Logik der Polizeiwissenschaft ist. Trotzdem hat man dieses Gefühl und projiziert es auf jeweils die Kulturpraxis, die man eben am besten mit sich verbinden kann. Nur wenn diese Kulturpraxis, mit der man sich verbindet, eine ist, in der der Widerspruch echt künstlich in die Form gebracht ist, ist man damit schon einen Schritt weiter als jemand, der meint, er müsse bei Wagneropern weinen, was ja so die deutsche Befindlichkeit wäre.
Und nun trifft also dieses Konzept auf deutsche HipHopper. Und ich glaube, daß da nicht viel übrig bleibt vom Signifying.
Etwas ähnliches konnte man bei Punk beobachten.
Auch Punk hatte ja einen sehr starken humoristischen, rollenspielenden Aspekt. Also, die Sex Pistols waren ja gerade nicht "Der Aufschrei Der Geknechteten", sondern eine Inszenierung, die allen Beteiligten auch als solche klar war. Trotzdem wurden in Deutschland wieder Glaubenskriege geführt: Wer ist ein echter Punk, und wer ist ein nicht ganz so echter Punk.
Neid: Ja, das war das Problem, was ich bei Leuten hatte, die so philosophisch über Jugendkulturen schreiben, was da alles so reflexiv in Bezug auf die Gesellschaft gelaufen wäre. 'n Kid hat doch gar nicht die Möglichkeit dazu, etwas zu sein und gleichzeitig zu refektieren. Ich glaube, da liegen Theorie und Praxis sehr weit auseinander.
D. Diederichsen: Ach ja, und was mich noch interessiert, diese Sachen mit Ami-HipHop: Ob das nur meine Perspektive auf Amerika ist, und die das selber vielleicht auch nicht wissen.
Neid: Es wäre interessant, zu sehen, was man empfinden würde, wenn man als Deutscher für einen Augenblick als Muttersprache Amerikanisch hätte und dann auf'm Gang-Starr-Konzert steht. Ob das dann irgendwie blöder wäre oder so.
D. Diederichsen: Naja, das ist 'n altes Problem von deutschen Popfans. Natürlich fände man es profaner, aber würde auch gleich wieder mitbekommen, daß diese Profanität andere Reize hat.
Aber nochmal zurück zum Anfang der Frage. Also, die Theorie einer Sache handelt ja nicht davon, daß das, worüber man theoretisiert, diese Theorie auch weiß; also die Logik des eigenen Handelns kennt. Deswegen gibt's ja nur die Theorie. Das ist natürlich ein sehr problematischer Standpunkt, aber man entmündigt die Leute sozusagen, wenn man sagt: Du tust da etwas, wovon Du gar nicht weißt, daß Du's tust. Aber es ist ja nunmal so.
Das ist ja gerade der Punkt, im Grunde genommen an allem. Das Einzige, was du tun kannst, ist: etwas, was einer sagt, in allen Konsequenzen zu lesen oder zu interpretieren und dabei Dinge freizulegen, die er gesagt hat, - die er sich nicht abstrakt klar gemacht hat. Aber er hat sie ja gesagt. Die Leute sind ja nicht widerspruchsfrei. Die Leute wissen ja viele Dinge, von denen sie nicht wissen, daß sie davon wissen.
Neid: Na, das fand ich 'n ganz guten Satz von dem Hebdige: "Sie sagen, was sie meinen, aber sie bedeuten nicht, was sie sagen."
D. Diederichsen: Ich würde sogar sagen, eine Theorie ist ja von ihrem Anspruch her widerspruchsfrei. Was ja auch 'n blöder Anspruch ist, aber erstmal funktioniert Denken ja so, daß man versucht, etwas auf den Begriff zu bringen. Und in den Begriff etwas aufzunehmen, so daß der Begriff widerspruchsfrei ist.
Die Praxis ist ja nie widerspruchsfrei. Also kann es sein, daß Leute sich hier wieder etwas authentizistisch verhalten oder glauben, es sei authentisch. Auf der anderen Seite aber eine Praxis haben, in der sie genau wissen, daß es doch nicht authentisch ist. Einfach, weil sie sich durch nichts gezwungen sehen, diesen Widerspruch auszutragen, kann das nebeneinander existieren. Oder sich sogar gegenseitig hervorbringen. Es kann ja durchaus sein, daß man eine Praxis hat, die extrem anti-authentisch ist. Daß man sie authentisch nennt, weil man dieses Nicht-Authentische spürt und einen Mangel empfindet.
[Der zweite Teil der Frage (Homeboybullen bei Copkiller von Ice-T): Direktheit geht verloren, wenn Deutsche Amirap hören]
Neid: Ich frage mich als Fotographin natürlich, wo ich ja praktisch nur noch mit Symbolen umgehe (wie alle anderen auch?), ob es sich einfach darum handelt, 'ne bestimmte Ästhetik durchzuziehen. Gerade wenn ich sowas übernehme, wi z.B. Band vor der örtlichen U-Bahn-Station. Oder ob es tatsächlich noch was ausdrücken kann...
D. Diederichsen: Naja, die Häufigkeit von Leuten vor Straßenschildern oder U-Bahn-Stationen ihrer Ortsgegenden in Videos oder auf Fotos...
Die Geste z.B. von Professor X in dem X-Clan-Video, daß er sich auf das Straßenschild "Utika Avenue" - die ist in Crown Height - bezieht, bezieht sich auf die Crown-Height-Geschichte. Das war halt so'n Fall, ungefähr zur gleichen Zeit von Rodney King. Daß also ein jüdischer Autofahrer einen schwarzen Jungen angefahren hat. Crown Height ist eine Gegend, wo viele Schwarze und viele Juden leben. Und die jüdische Ambulanz - das ist der Skandal - hat sich nicht um den Jungen gekümmert. Der ist also gestorben. Und einen Tag später haben ein paar Schwarze einfach einen Juden umgebracht. Und dann gab's racial currest, wie man das so schön nennt. Und X-Clan sind da sehr aktiv gewesen. Also der Vater von Professor X, Jonny Carson, und Professor X selber haben also Ralleys organisiert usw. Natürlich extrem ihrer separatistisch-nationalistischen Position entsprechendes Zeug. Aber egal. In einem Video wird also auf diesen extremen lokalen Zusammenhang hingewiesen, den man ja schon außerhalb von New York kaum noch versteht.
Also dieses Lokale ist ja ein ganz wesentlicher Bestandteil, wie auch in dem Wort Homeboy zu erkennen. Und deshalb würde ich sagen, wenn sich solche Sachen häufen, kann man das natürlich als Symbol ernstnehmen, und es nicht auf eine rein ästhetische Regel reduzieren.
Die Frage ist, inwieweit ist das übertragbar. Und ich würde sagen: Das ist ein Aspekt, der ist extrem übertragbar. Die Städte in Europa entwickeln sich ja analog zu amerikanischen Städten, auch hier definieren sich die Leute immer mehr über ihre Neighborhood.
Neid: Woher kommen diese Formen? Meinst Du, daß die auch mit im HipHop entwickelt wurden? Oder marktstrategische Hohlheit?
D. Diederichsen: Na, das muß man doch den Leuten überlassen. Also, die Sache mit dem Lokalpatriotismus ist keineswegs hohl.
Aber feststeht, daß sich allgemein der Westen, nicht immer nur ganz freiwillig - Stichwort "Kulturimperialismus" - die Kultur Amerikas seit den 50ern übernommen hat. Und es ist erstmal völlig egal, ob sie dazu berechtigt sind oder nicht. Ein fact ist, sie tun's! Und es gibt ja einen durchgehenden Zug durch die deutsche Jugendkultur, sich - ohne zu verstehen, was es im Original bedeutet - für etwas zu interessieren. Dieser Zug ist schon so alt, der geht auch bis in die Sprache. Also eigen ist für Nachkriegsdeutschland z.B. sich auf angloamerikanische Kultur zu beziehen. Man könnte fast sagen, es ist ein Signifying, d.h. es ist so eines festgeschriebenes Verhältnis, was sich selbst aber wieder normal anfühlt. Wir hatten als Kids Beatles-Songs nachgesungen, ohne Englisch zu können. Mein Neffe gibt was von sich, in dem ich 'n Son-of-Bezerk-Stück wiedererkenne. Das können Kids nicht durch Platten, sondern durch Radio und Fernsehen.