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In seiner Philosophie des Kinos (1) beschreibt Gilles Deleuze drei Bildformate, die - jedes auf seine Weise - die Notwendigkeit des experimentellen Films in sich tragen.
Der prä-experimentelle Film arbeitet noch im Medium der Bewegung, die nicht von ihren Bildern getrennt werden kann. Weder sind die Bilder Repräsentation der Bewegung, noch erfaßt die Bewegung die Gegenstände von außen - das Bild ist ursprünglich eine Bewegung und als Bewegung ein Bild. "Das Bewegungs-Bild ist der Gegenstand, es ist die Sache selbst, die in der Bewegung als kontinuierliche Funktion erfaßt wird. Das Bewegungs-Bild ist die Modulation des Gegenstandes selbst. Was hier 'analog' ist, hat nichts mehr mit der Ähnlichkeit gemein, denn hier tritt die Modulation ins Spiel - so wie bei den sogenannten Analogrechnern." (2)
Die Entdeckung des Bewegungs-Bildes in der Philosophie (die Bilder des Bewußtseins müssen gleichzeitig als Bilder des bewegten Raumes gedacht werden, einer äußerlichen Zeit unterstellt - Bergson und Nietzsche (3)) und die beinahe unmittelbare Funktionalisierung dieser Erkenntnis in der Filmtechnik trug unterschiedliche Interpretationen in sich: Griffith interpretierte das Bewegungs-Bild als ein organisches Duell (alternierende Parallelmontage in Intolerance: das Wagenrennen und die Eisenbahn), während Eisenstein das Zusammentreffen von Bild und Bewegung nur als Modell des allgemeinen Entwicklungsgesetzes verstehen konnte (der dialektische Prozeß und das Pathos des Sprungs in Staroe i novoe: die Zentrifuge und der Strahl).
Der sensomotorische Einschnitt (das Indeterminationsintervall der Kamera (4)) wird erst dem Experimentalfilm als Ausgangsdifferenz (Optozeichen/Sonozeichen) dienen, mit deren Hilfe die motorische Fortsetzung in einen Taumel geraten kann; die Einschnitte und Brüche, die irrationalen Anschlüsse und Querverweise leiten sich dann nicht mehr von der senso-motorischen Bewegung her, die sie überstiegen haben, sondern sie formulieren die Modalitäten der Zeit selbst (Erinnerungsbild, Halluzination, Trance und auch die Chronik im Gegensatz zur Handlungsbeschreibung). Diese Proliferation faßt Deleuze unter dem Titel "Zeit-Bild" zusammen.
Die Koexistenz von Bild und Bewegung im Bewegungs-Bild-Komplex steht jedenfalls am Anfang der Kinogeschichte und läßt in der Folge die drei wesentlichen Erscheinungsformen des Bildes hervortreten: das Wahrnehmungsbild, das Aktionsbild und das Affektbild.
In Fortsetzung der Form des Wahrnehmungsbildes (das Kamera-Auge und das Photogramm bei Vertov; das Wasser bei Vigo und Renoir), dessen wesentliche Einstellung die Totale ist, bildet sich eine Bilderwelt der Molekularwahrnehmung, der Mikrobewegungen und der elementaren Verteilungen im abstrakten Raum heraus. Die Wahrnehmung intensiviert sich, indem ihre Bewegung in eine experimentelle Handlung eingebunden ist. Mit der experimentellen Technik kann diese Form von partikularer Bewegung und innerer Unruhe (Schwingungen und Flackern) Darstellung erlangen.
Nach der Beschreibung von Gilles Deleuze qualifiziert sich das Wahrnehmungsbild als Vorstufe der experimentellen Bildtektonik, da es den Objektstatus des Motivs auflöst und zu einer reinen Wahrnehmung tendiert, wie sie einem 'Auge in den Dingen' - das keinen subjektiven Ermessensspielraum in die Gegenstandswelt hineintragen würde - zukommt. Darin besteht die objektive und revolutionäre Funktion der Kamera, wie sie die sowjetischen Filmemacher, vor allem Vertov (Kino Glaz), begrüßt haben, und wie sie vom amerikanischen Undergroundfilm, Michael Snow, Stan Brakhage oder Tony Conrad, weiterentwickelt und modifiziert wurde: "So weit wird jedenfalls der amerikanische Experimentalfilm gehen, er wird sich von der Lyrik des Wassers der französischen Schule abkehren und von Vertov beeinflussen lassen. Ein ganzer Aspekt dieses Filmschaffens richtet sich tatsächlich darauf, eine reine Wahrnehmung zu erreichen, wie sie in den Dingen oder in der Materie auftritt, überall dort, wo molekulare Wechselwirkungen ablaufen." (5)
Das Theorem der amerikanischen experimentellen Schule läßt sich somit vielleicht folgendermaßen vorstellen: 'Es gibt Wechselwirkungen in den Dingen, die von der in der Handlung reflektierten Wahrnehmung nicht überstiegen werden können - daher die Notwendigkeit einer experimentellen und nicht-menschlichen Technik der Wahrnehmung.' (6)
Aber nicht nur die Wahrnehmung verwirklicht sich, indem sie das Ensemble aufbricht und zu einer flüssigen oder objektiven Form des Bildes gelangt.
Das Aktionsbild kann keine aktuelle Konfrontation zeichnen, ohne durch seine Herkunft aus der Duellsituation Klischees zu reproduzieren (die Kritik am Klischee in den Filmen Robert Altmans reproduziert den Mangel des Bewegungs-Bildes, ohne aus ihm herauszutreten). Die Aktion (als unmittelbare Verlängerung der Wahrnehmung) bringt weder die Verwirklichung des 'amerikanischen Traums', noch die Vollendung der kommunistischen Gesellschaft; das Scheitern der Handlung bestimmt fortan das Aktionsbild. Das senso-motorische Klischee zerbricht im Nachkriegsfilm, dessen Handlung sich durch die isolierten Körper, die keiner umfassenden Moral unterliegen, bestimmt.
Das Theorem des Neo-Realismus, mit dem er das Aktionsbild durchstößt, lautet vielleicht abgekürzt: 'Das Aktionsbild verweist auf keine handelnden Personen mehr, sondern vielmehr auf die entleerten Räume, zerstörten Städte und öden Landstriche. Das Aktionsbild löst sich in beziehungslos dahintreibende Kreise und isolierte Elemente auf. Darin drückt sich unmittelbar die Notwenigkeit des Experiments aus, neue Aktionen und Wahrheiten zu erfinden (später auch cinéma verité und cinéma direct).' (7)
Die Gesichtszüge des Affektbildes können auf keine inneren Zustände mehr verweisen (außer auf die depersonalisierte Leere, das erstarrte Bewegungs-Bild bei Ingmar Bergman). (8)
Es scheint also eine dritte Form des experimentellen Films geben zu müssen, die sich aus einem Typus des Bewegungsbildes (nämlich dem Affektbild) entwickelt.
Gilles Deleuze setzt Ingmar Bergmans Kino der Angst an das Ende einer Entwicklung, die möglicherweise (was Deleuze allerdings nicht ausführt) vom modernen Horrorfilm fortgesetzt und durchbrochen wird. (9)
Das Affektbild des Horrorfilms ergibt sich aus einem Einwand gegen die etablierte existentielle Schule des Affektbildes: Das Gesicht ist nicht nur Träger einer Ausdrucksschicht, die das Entsetzen, die Freude oder die Leere transportieren kann. Diese Konzeption des Affektbildes verweist - auch bei Bergman - nur auf eine psychologische Innerlichkeit, die in der Bewegung der Bilder erstarrt, ohne sie übersteigen zu können. Das Gesicht des Horrorfilms ist im Gegensatz dazu in einer Bewegung begriffen, die sich - gemäß eines Gedankens von Kafka - auf zwei Bahnen verteilt: der räumlichen Bewegungsbahn der Transportmittel, der expressiven Bewegungsbahn der Kommunikationsmedien. Insofern läßt sich vielleicht zu der glanzvollen und funkelnden Genealogie von Gilles Deleuze, die den nicht-narrativen Film aus dem Wahrnehmungsbild (Totale) und dem Aktionsbild (halb- nah) herleitet, eine weitere hinzufügen, die den nicht-narrativen modernen Horrorfilm als experimentelle Weiterentwicklung des Affektbildes (Großaufnahme) begreift.
Das Wahrnehmungsbild hat sich von seinem konkreten Gegenstandsbezug gelöst, das Aktionsbild ist im Neo-Realismus vom Handlungsvollzug getrennt und das Affektbild durchstößt die dünne Schicht des Gesichtsoberfläche, um Bildern monströser Gewalt einen Raum zu verschaffen (verteilt auf die Bahnen der expressiven und der motorischen Medien). Die Verfeinerung der Bildtypen übersteigt in jedem Fall die Zweck-Mittel-Relation. (10) Mit dem Experimentalfilm setzt sich der Entsubjektivierungsprozeß fort, dem das Zerfließen, die Zersetzung oder die Multiplikation der subjektiven Entitäten voranging...
Die Großaufnahme bewirkt eine Lösung des Gegenstandes aus seinem raum-zeitlichen Zusammenhang. Ein Vorgang, den bereits Béla Balázs beobachtete. (11) Im Gegensatz zu Balázs stellt Deleuze jedoch fest, daß die Verwandlung des Gegenstandes, die durch die intensivierende Großaufnahme vorgenommen wird, nicht nur für das Gesicht gilt, das sich in affektive Zustände und präpersonale Qualitäten auflöst, sondern für jeden Gegenstand in Großaufnahme: ein Messer, eine Uhr, ein Türgriff... In M.A.R.K - 13 (Richard Stanley 1990) liegt das Mädchen rauchend auf dem Bett, bis die Kamera den Rauchbewegungen folgt (vertikale Drehung) und sich ein neues Gesicht aus Schläuchen, Drähten, Infrarotoptik und Hydraulik-Geräuschen zusammensetzt. Aus dem Zusammentreffen von Großaufnahme und Gesicht erschließt sich auch noch die Bedeutung von Ingmar Bergmans Filmen, dessen Kino der Angst an die erstaunten, erstarrten oder erschreckten Gesichter von Bibi Andersson und Liv Ullmann gebunden ist, die sich in einem affektiven Existenz-Raum bewegen, in dem die Dinge sie beobachten (die Uhr an der Wand, das beinahe vergessene Souvenir in der Vitrine). Während die Zeit bei Bergman jedoch den existentialen Kategorien untersteht, beginnt mit dem modernen Horrorfilm ein Befreiungsprozeß, der die Zeit in einem direkten Bild zu erfassen sucht und die Affekte der maschinellen Zeit unterstellt.
In dem Einschnitt zwischen sensorischer Wahrnehmungsschicht und motorischem Aktionsbild eröffnet sich die Welt der nicht-menschlichen, intensiven, gewaltsamen Affekte. Nicht in einer tiefen Innerlichkeit, sondern in Form dieser unüberbrückbaren Spaltung müssen die Affekte gedacht werden, hinter der Wahrnehmung, vor der Aktion (die Wahrnehmung ist determiniert, die Aktion unterliegt der Indetermination).
Zu recht stellt Gilles Deleuze auch noch Bergmans Affektbilder in einen Zusammenhang mit Kafkas Theorie von den Gespenstern in den motorischen und expressiven Kommunikationsmedien: "Bergman hat den Nihilismus des Gesichts am weitesten getrieben, das heißt sein Verhältnis zur Leere und Abwesenheit in der Angst, der Angst des Gesichts angesichts des Nichts. In einem ganzen Bereich seines OEuvres stößt Bergman an die äußersten Grenzen des Affektbildes vor, er verbrennt das Ikon, er verzehrt und löscht das Gesicht genauso bestimmt aus, wie Beckett es tut. Ist das der Weg, auf den uns die Großaufnahme als Entität unvermeidlicherweise führt? Die Gespenster sind für uns um so bedrohlicher, als sie nicht aus der Vergangenheit kommen." (12)
Kafka zieht einen Trennstrich zwischen den Fortbewegungsmitteln, die eine Aktion befördern können, und den Kommunikationsmedien, die einer Wahrnehmung Ausdruck verleihen sollen. Dazwischen warten die Gespenster, die "die geschriebenen Küsse auf dem Wege austrinken" und es verhindern, daß die Fortbewegungsmittel die Menschen einander näherbringen. Kafka verband mit dieser Diagnose eine künstlerische Ethik. (13) David Cronenberg kann als ein Filmautor angesehen werden, der dem ethischen Aspekt, der aus dieser Medienanalyse hervorgehen könnte, sein Werk gewidmet hat (der Virus, der Vampir und das Gesetz). Die Personen stehen in serienmäßiger oder auch reduplizierter Beziehung zueinander, und je mehr Monolithen die Wolken berühren (das StarCo Starliner Island in Shivers), um so mehr greift der Virus um sich, um Gespenster zu produzieren. (14) Auf der anderen Seite muß vielleicht das Werk von David Lynch angesiedelt werden, das sich keine Ästhetisierung der Medienwelt vorzuwerfen hat, vielmehr im kreativen Gebrauch der Expressionen eine Welt beschwört, in der die Medien der psychotischen Kommunikation unterstehen (die Fallsucht, der Werwolf und die Transformation). Das Affektbild beginnt hier zum Teil sich bereits in ein reines Erinnerungsbild umzuwandeln. Etwa in den wunderbaren Halluzinationen des Agenten Cooper, die sich mit den Erinnerungsbildern der anderen Personen vermischen (Twin Peaks). (15)
Eines der erstaunlichsten Momente des modernen Horrorfilms ist sicherlich seine Massenwirksamkeit. Der Einbruch in die Kinolandschaft, dem die Filme von George A. Romero, Uli Lommel, William Friedkin oder Tobe Hooper folgten, kann heute vielleicht als ein Symptom gelesen werden, das einen neuartigen Bildertypus in den frühen siebziger Jahren hervorbrachte - die abstrakte Affektbild-Modulation.
Für die Datierung eines Ereignisses ist nicht der tatsächliche Erscheinungstermin wesentlich, sondern das Zusammenwirken unterschiedlich gewichteter Faktoren innerhalb des überdeterminierten Feldes. Zwei Einwände könnten gegen diese Feststellung erhoben werden: Zum einen gibt es die Großaufnahme bereits lange vorher, sie markiert (vielleicht als Synekdoche) sogar das Wesen der kinematographischen Produktion (man erinnert sich auch der dramaturgischen Auseinandersetzung, die Griffith und Eisenstein mit dieser Technik verband). Zum anderen codiert sich die lediglich anfangs experimentelle Großaufnahme der siebziger Jahre in der Folgezeit mehr über das Kalkül als über die subkulturelle Strategie. Sicherlich findet sich die Technik der Großaufnahme bereits in den ersten Formen des Bewegungs-Bildes, ihren affektiven Stellenwert gewinnt sie jedoch erst in dem Moment, in dem sie sich von der (sei's organischen, sei's dialektischen) Dramaturgie gelöst hat, in die sie eingebun- den war. Gleichfalls mußte sich das Affektbild aus den depersonalisierten Räumen des existentiellen Films lösen, um zu einer abstrakten Modulation zu gelangen. Sicherlich haben in der Zwischenzeit auch ökonomische Verschiebungen und Konzentrationen stattgefunden, die die filmischen Produktionsverfahren denjenigen der multiregional (und gleichzeitig hegemonial) produzierenden Filmgesellschaften angleichen. (16) Dennoch kann man aber in den Filmen Paul Verhoevens (RoboCop, 1987, Total Recall, 1990) sehen, daß das völlig in Anspruch genommene Kalkül der Zukunftsplanung und -technologie in einen Prozeß gestellt ist, der es sprengt. In RoboCop gewinnt die Schlußszene ihre immanente Logik nicht so sehr, weil sich die menschliche Identität den technischen Manipulationen widersetzt, sondern im Gegenteil weil sich die menschliche Identität als das Resultat einer Erinnerung ausweist, die sich im Flackern und Rauschen des Videobildes bereits ausdrückte. Nicht der äußerliche Name ("Murphy"), sondern die Sinustöne und die gestörten und hergestellten Erinnerungsbilder transportieren die Affekte, die die Umgestaltung von Detroit in ein "futuristisches" Delta City verhindern: das Kalkül zerbricht den Komplott, aus dem es hervorging...
In die Datierung des Einbruchs, der durch die Arbeit mit dem Affektbild herbeigeführt werden konnte, fällt sicherlich auch das Auftauchen der ersten Formen von Hardcore-Pornographie. Der abstrakte Gebrauch von Großaufnahmen verschafft dem experimentellen Genre, das zu Beginn der siebziger Jahre gleichzeitig mit Horror- und Sexelementen arbeitet, eine Breitenwirkung, die von der Krise des Aktionsbildes getragen wird. In David Cronenbergs Shivers (1976) steigt ein Mann mit Aktenkoffer aus dem Furnierholz-Fahrstuhl, öffnet die Apartmenttür und geht suchend im Wohnraum umher (die Küche, die Drucke von Klee an den weißen Wänden, das spartanische Mobiliar). Plötzlich verharrt die Bewegung und das Bild entfaltet sich in einer großartigen Tiefenkomposition: die Geliebte liegt mit geöffnetem Brustkorb auf dem Tisch, das linke Bein mit dem blauen Kniestrumpf ragt in das Affektbild hinein, während im Hintergrund die Geräusche von Husten und Würgen zu hören sind... Nachdem bereits beinahe alle Elemente in den affektiven Taumel gezogen worden sind, erzählt das Mädchen George in der Tiefgarage, was ihr ein Traum bedeutete: alles ist sexuell. Diese Steigerung beherrscht vollkommen Cronenbergs Rabit (1976): die "Plastische Transplantations-Chirurgie"... (17)
Ganz im Gegenteil handelt es sich bei der Weiterentwicklung des Affektbildes um kein Authentizitätsprogramm. An der Oberfläche wurde zwar oftmals vorgegeben, Verbotenes, Nie-Gesehenes, "die Wirklichkeit" zu zeigen. Handelte es sich aber tatsächlich um ein Programm, das sich die Herstellung oder Wiederentdeckung einer wahrhaftigen und anfänglichen Affektivität zum Ziel gesetzt hatte? Viel eher handelte es sich um ein Verfahren, das einen senso-motorischen Zwischenbereich eröffnet, der solange keine Wahrnehmung darstellen kann, wie er noch nicht zur Handlung werden konnte (ohne auf vorgefertigte Handlungsmuster zurückgreifen zu müssen, ohne gegenständliche Bilder der Wahrnehmungsschicht benutzen zu müssen). (18)
Der Humor der Filme kann keine Erklärung finden, wenn die Affekte als unmittelbare Handlungen oder als wahrgenommene "Urängste" (Archetypen) definiert werden. Zum einen zeigt sich in den Bildern des Horrorfilms, daß es niemals um die Darstellung einer ursprünglichen Schicht ging, sondern immer um eine ursprüngliche Entstellung im Sinne einer Groteske (keine Karikatur: "Im schlechten Kino vermischte sich der Schock mit der figurativen Gewalt des Dargestellten, anstatt jene andere Gewalt eines Bewegungs-Bildes zu erreichen, das seine Vibrationen in einer beweglichen Sequenz entwickelt, die in uns eindringt." (19)). Und zum zweiten ist prinzipiell eine "authentische" Darstellung ausgeschlossen, da das Affektbild eine grundsätzliche Zerrüttung des raumzeitlichen Koordinatensystems impliziert, eine Abstraktion, die die Verwandschaft des Horrorfilms mit einer weiteren Bilderwelt der frühen und mittleren siebziger Jahre erklärt: der Science Fiction (Alien, Ridley Scott 1979, Aliens, James Cameron 1986 etc.). Diese Modulationen weisen aber nicht nur in die Zukunft, sondern füllen sich - je weniger Handlung sie transportieren - mit Erinnerungsbildern an: "Wir sahen bereits, daß die Subjektivität schon im Bewegungs-Bild zum Ausdruck kam: sie erscheint, sobald es einen Abstand zwischen empfangener und ausgeführter Bewegung gibt, zwischen Aktion und Reaktion, Reiz und Reaktion, Wahrnehmungsbild und Aktionsbild. Und wenn auch die Affektion eine Dimension dieser ersten Subjektivität ist, dann deswegen, weil sie zu diesem Abstand gehört, sein 'Inneres' konstituiert und ihn in gewisser Weise besetzt, ohne ihn dabei zu füllen oder auszufüllen. Im Gegensatz hierzu füllt nun das Erinnerungsbild den Abstand auf, ja, es füllt ihn geradezu aus, und zwar derart, daß es uns in individueller Weise zur Wahrnehmung zurückführt, anstatt sie in eine allgemeine Bewegung fortzusetzen." (20)
Alle Autoren, die im Horror-Genre an der Verfeinerung des Affektbildes gearbeitet haben, waren bemüht, eine eigene Philosophie des Affektbildes zu entwickeln - eine Philosophie, die sich ebenso von einer pragmatischen oder kritischen Handlungstheorie wie von einer phänomenologischen Beschreibung der Wahrnehmung unterscheiden sollte... Vielleicht waren die ersten Experimente mit der abstrakten Affektbild-Modulation noch zu sehr den existentialistischen Kategorien verpflichtet, als daß sich durch sie eine freie maschinelle Verkettung herstellen konnte. Verfolgt von der Angst, eingeschlossen in der zerbrochenen Zivilisation, abgeschnitten vom menschlichen Kontakt. Aber im Grunde sind die maschinellen Elemente schon da, um sich zu einer Bewegungsserie zu verketten (die Kettensäge in The Texas Chainsaw Massacre (Tobe Hooper, 1974)) oder in einer medialen Konspiration zusammenzuschließen (auf dem Fernsehbildschirm gibt der Politiker beruhigende Losungen aus, während er in die Limousine steigt; die Bürgerwehr hat ihre Losung gefunden: Shoot 'em in the Head! (Night of the Living Dead, George A. Romero 1968)). Die Ausnahmesituationen stellen jedoch Prüfungen der menschlichen Widerstandskraft dar und sind insofern noch weniger dem Potential der divergierenden Serien (und ihrer gespenstischen Mitte) verpflichtet, als daß sich das menschliche Wesen bewahrheitet (bzw. negiert): "Wir sehen Johnnys wahre Natur hervorkommen und haben ihn damit festgelegt auf eine dieser Filmfiguren, die eine Krise brauchen, um ihr Bestes zu zeigen." (21) Das Motiv der Wahl, der Entscheidung und der Heimsuchung besetzt das Affektbild, um eine spirituelle Dimension des Gespenstischen zu eröffnen (The Exorzist, William Friedkin 1973; The Omen, Richard Donner 1975). Diese Verkettungen entwickeln sich zu Passionen und führen damit eher zurück auf die affektive Szenenaufgliederung Dreyers (die spirituelle Wahl), als daß sich die Vampire zu Serien verketten oder in ein Komplott verwandeln. Zu Dreyers La Passion de Jeanne d'Arc (1928) schreibt Gilles Deleuze: "Zwar ist es der Zorn des Bischofs und das Martyrium von Jeanne; von den Rollen und Situationen bleibt aber nichts erhalten als das, was man zur Freisetzung des Affekts und zur Ausführung seiner Verbindungen braucht, wie etwa ein 'Potential' für Zorn oder List oder eine Opfer- oder Märtyrer-'Qualität'." (22) Die spirituelle Entscheidung zwischen Richard Burton und Linda Blair...
In It's Alive (1974) beschreibt Larry Cohen eine zentripetale Kraft, die sich in den monströsen Kindern verkörpert. Dieser Kraft unterliegen im selben Maße die Erwachsenen, wenn sie sich gezwungen sehen, zu Kindern zu werden, um Verbindung mit den Monstern aufzunehmen. Begleitet von der enigmatischen Bernard-Herrmann-Melodie verdichtet sich das wirbelnden Lichtermeer zu Beginn des Films zu der unheimlichen Präpersonalität des Monsters, von dem man nicht mehr sagen kann, als daß es lebendig ist. In einer rührenden Szene trifft der Vater auf das Kind, das keinen Namen hat; er hört den Schrei, der keine Bedeutung transportiert, und gesteht: "Ich kenne das. Vor langer Zeit...war ich genauso verletzt wie du." Die gespenstische Serie entwickelt sich, indem sie die kindliche Entwicklung vor der Berührung (vor dem Namen) in einen konzentrischen Strudel trägt, dessen Mitte sich aus den abstrakten Affekten und Erinnerungsbildern zusammensetzt ("Je nehr man in die Dinge eindringt, um so unwirklicher werden sie.") Eine zentrifugale Bewegungs-Serie beschreibt dagegen The Evil Dead (Sam Raimi, 1982). Die Gespenster lösen sich von der existentialen oder spirituellen Verfaßtheit, wenn sie auf die Tonbandstimme antworten und sich durch motorische Zuckungen und Verzerrungen auf dem Gesicht von Bruce Campbell ausdrücken. Und schließlich können sich die Organe vom Körper lösen (das Auge fliegt in den Mund des Mädchens; die abgetrennte Hand krabbelt über die Dielen, wird erdrückt vom A Farewell to Arms-Buch und der Arm verlängert sich in eine Kettensäge), die Bewegungen können sich in einer kosmischen Ekstase auflösen, die mit den höllischen Kamerafahrten über dem Sumpf koexistiert (The Evil Dead II, Sam Raimi 1986). Die Affekte folgen einer zentrifugalen Kraft, nach der die individuelle Kraft in eine Comic-Version von Nietzsches Übermenschen übergehen kann.
In einer komplexen Theorie kann es keinen Mangel geben, der ihre grundsätzliche Unzulänglichkeit oder gar Unwahrheit beweisen könnte. Vielmehr stellt die Leerstelle in der Kino-Philosophie von Deleuze (die abstrakte Affektbild-Modulation im Horrorfilm) die großartige Leistung, das Glitzern und Funkeln seines Denkens unter Beweis. Die Ausführungen zum Horrorfilm überführen ihn keiner unverzeihlichen Ausschließung. Unsere Worte verlängern weniger seine praktische Philosophie (die rhizomatische Wissenschaft, die Strategie der unbefleckten Empfängnis und die Euphorie des Werdens) als daß sie eine ergebene Verneigung vor einem Denken darstellen, das fremdartig bleibt. Zu den Zombies bei Resnais schreibt Gilles Deleuze: "All dies ist das genaue Gegenteil eines Todeskultes. [...] Doch welche Blitze, die das Leben waren, werden zwischen diesen Schichten und Schichtungen gezuckt haben? Ausgehend vom einen zum anderen Pol wird eine Schöpfung stattfinden, die allein deswegen eine wahre Schöpfung ist, weil sie zwischen beiden Toden, dem scheinbaren und wirklichen, entstanden sein wird, und sie wird dabei um so intensiver sein, als sie diesen Zwischenraum erleuchtet. Das Aufsteigen der Vergangenheitsschichten und das Absinken der Wirklichkeitsschichten geschieht in Bewegungen gegenseitigen Umfassens, welche Blitze des Lebens sind: Resnais nennt dies 'Empfindung' oder 'Liebe' im Sinne einer mentalen Funktion." (23)
Der "Horrorfilm" der Gegenwart hat das Zombie-Genre hinter sich gelassen. Einer der wichtigsten Filme der letzten Zeit, Tetsuo (Shinya Tsukamoto 1989), experimentiert mit menschlichen Maschinen (maschinellen Menschen), deren affektive Bilder (deren motorische und kommunikative Effekte) nur noch aus Explosionen, magnetischen Wirkungen und High-Tech-Blitzen bestehen.
1 Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt/M. 1989, sowie: Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt/M. 1991.
2 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt/M. 1991, S. 44.
3 Die Filmanalyse von Deleuze stützt sich im wesentlichen auf Bergsons Bildkonzeption, wie er sie in Materie und Gedächtnis vorstellt.
Zur nietzscheanischen Zeitkonzeption Hollywoods (das Monumentalische, das Antiquarische, das Kritische) vgl. Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt/M. 1989, S. 203-206.
4 Zum "Indeterminationsintervall" vgl. Henri Bergson, Materie und Gedächtnis: Essays zur Beziehung zwischen Körper und Geist, Jena 1908, S. 16-18 ("die Wahrnehmung verfügt über den Raum genau in dem Verhältnis, in dem die Tätigkeit über die Zeit verfügt." (18)).
5 Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt/M. 1989, S. 120.
6 Gilles Deleuze fragt nach der erforderlichen technischen Kombinatorik: "Alle diese Verfahren treffen sich in der Gestaltung des Films als maschinelle Kombination von Materiebildern. Bliebe zu fragen, was die entsprechende Kombinatorik von éußerungen wäre, denn die Antwort von Vertov (die kommunistische Gesellschaft) hat an Sinn verloren. Kann die Antwort lauten: die Droge als gemeinschaftsstiftender Faktor in Amerika? Wenn jedoch die Droge in diesem Sinne wirkt, dann nur durch die experimentelle Wahrnehmung, die sie herbeiführt und die sich durch ganz andere Mittel vollziehen kann." (Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt/M. 1989, S. 121.)
7 Vgl. zur Bildverkettung des Neo-Realismus (aufgebrochene Klischees, abgetrennte Räume und zerstückelte Begegnungen): Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt/M. 1989, S. 275-285 sowie: Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt/M. 1991, S. 11-21.
8 Zur Funktion des Affektbildes im Bewegungs-Bild-Komplex (hinsichtlich Großaufnahme, Angst und Gesicht) vgl. bei Deleuze, Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt/M. 1989, S. 123-142 ("Sechstes Kapitel: Das Affektbild: Gesicht und Großaufnahme").
9 Gilles Deleuze erklärt die sich entfaltende "Autonomie des Affektbildes" bei Terence Fisher und die Triebwelten bei Mario Bava mit "der Entwicklung des Horrorfilms vom gotischen zum neugotischen Film, vom Expressionismus zum Naturalismus" (Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild, Frankfurt/M. 1989, S. 156 und 178). Er verfolgt die Entwicklung des Affektbildes im Horrorfilm jedoch nicht weiter.
10 Das Aktionsbild verhält sich zum "hodologischen Raum" (Kurt Lewin) wie die Nicht-Wahl zum Körperensemble - vgl. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt/M. 1991, S. 170 und 262.
11 Béla Balázs, Schriften zum Film, Bd. 2, München - Berlin (Ost)- Budapest, S. 57-70 ("Großaufnahme" aus: Der Geist des Films).
12 Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild: Kino 1, Frankfurt/M. 1991, S. 140.
13 Vgl. zu Kafkas medialer Gespenstertheorie: Franz Kafka, Briefe an Milena, Frankfurt 1966, S. 198f.
14 "Ich ziehe es vor, Shivers auf einer affektiven Ebene zu interpretieren, als einen Film über Menschen, die fühlen, daß sie - aus welchen Gründen auch immer - außerhalb der Gesellschaft stehen und daß sie der Gesellschaft zum großen Teil verbergen müssen, was sie sind, da die Gesellschaft immer monolithischer wird und fähig, sie an den Rand zu drängen, wenn sie sich zu erkennen geben würden. [...] Wenn du anfängst zu glauben, daß diese Kraft, die du hast - dieses Talent, diese Einsicht - von der Gesellschaft nicht richtig aufgenommen wird, lernst du, sie zu verstecken - und im selben Moment lernst du Wege kennen, sie auszudrücken." (David-Cronenberg-Interview in: John McCarthy, Splatter Movies: Breaking the Last Taboo of the Screen, New York 1984, S. 79-86 (79).)
15 Norbert Stresau schreibt: "Wo sich der Vampir ohne Schaden für das System zerstören läßt, ist das im Fall des Werwolfs nicht so ohne weiteres mehr möglich." (Norbert Stresau, Der Horror-Film: Von Dracula zum Zombie-Schocker, München 1987, S. 146.) Die Analyse von Stresau ist allzu global, insofern sie dem Affektbild das kompakte System voranstellt. Dagegen operieren die motorischen Übertragungen bei Cronenberg (die Transmissionen des Vampirs) und die medialen Komplexe bei Lynch (die Transformationen des Werwolfs) von vornherein in dem Zwischenraum, den das Affektbild darstellt. Beide Autoren streben jedenfalls keiner Zerstörung zu, sondern einer Verlängerung oder einer Verbreitung.
16 Gilles Deleuze bezieht sich auf das komplexe Kalkül, wenn er das Film=Geld-Syndrom als Konspiration (Film im Film) beschreibt: Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt/M. 1991, S. 106-108.
17 Die abstrakte Affektbild-Modulation findet sich auch in der bildenden Gegenwartskunst, wie Mike Kelley gegen den minimalistischen Platonismus feststellt (die desintegrierende Groteske gegen die integrative Karikatur): "Die groteske Entstellung des Körperaufbaus ist eine Hauptstütze der popular art. Cartoons und Horrorfilme liefern zahllose Beispiele dafür, und in vielen dieser Fälle ist die Neigung zur Abstraktion bewußt erotisch." - Mike Kelley, Foul Perfection: Thoughts on Caricature, in: artforum Jan. 1989, S. 92-99 (96).
18 Zum "Beaver-Loop" vgl. Georg Seeßlen, Der pornographische Film, Frankfurt/M. 1990, S. 198-201.
19 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt/M. 1991, S. 206.
20 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt/M. 1991, S. 68.
21 Kim Newman, Nightmare Movies: A Critical Guide to Contemporary Horror Films, New York 1988, S. 2.
Zum Zusammenhang von Manson-Kult, Hippie-Kultur und Zombie-Film vgl. auch Kim Newman, Nightmare Movies: A Critical Guide to Contemporary Horror Films, New York 1988, S. 8-11.
22 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt/M. 1991, S. 149.
23 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt/M. 1991, S. 270.