Alexandra Filipp

Das Isolate

Als ich zum ersten Mal das Thema Isolation in der Großstadt in die Hand bekam, dachte ich feststellen zu müssen, daß ich mich isoliert fühle. Als nächstes kam mir der Gedanke, daß die Thematik und der Begriff negativ belegt sind. Also fühlte ich mich erstmal schlecht und einsam. Der Begriff Isolation blieb in den folgenden Monaten in meinem Kopf und ich versuchte, mein Leben, meinen Bezug zur Umwelt, das Leben der anderen Menschen, meinen Körper unter diesem Begriff zu betrachten und zu fragen, wie natürlich oder wie schlecht denn Isolation unter Menschen wirklich ist. Als erstes fiel die Eingrenzung ... 'in der Großstadt' weg. Wenn man schon isoliert ist, oder sich so fühlt, macht es wenig Unterschied, ob das in der Großstadt ist oder anderswo. Ganz im Gegenteil gibt die Großstadt den meisten ihrer Bewohner das Gefühl, eben nicht allein bzw. isoliert zu sein. Und hier ist auch schon der nächste Knackpunkt: Allein, einsam ist nicht isoliert und umgekehrt. Es sieht zwar fast gleich aus, beruht aber doch auf Freiwilligkeit. Einsam ist man zumeist unfreiwillig. Scheinbare Nicht-Isolation ist Einsamkeit. Isoliert ist man, wie ich herausbekommen habe, meistens bewußt und aus eigenem Antrieb.
Vielleicht machen das die Definitionen aus dem Lexikon klarer.


Zuerst das Fremdwort an sich:

1.Absonderung, Getrennthaltung
(von Häftlingen, Infektions- und Geisteskranken)

2.Vereinzelung, Vereinsamung, Abkapselung
(eines Individuums innerhalb einer Gruppe)
Abgeschnittenheit eines Gebietes
(vom Verkehr, von der Kultur o.ä.)

3.Verhinderung des Durchgangs von Strömen
(Gas, Wärme, Elektrizität, Wasser u.a.)

Dann gibt es sogar noch den Isolationismus:

politische Tendenz, sich vom Ausland abzuschließen (sich nicht einzumischen und keine Bündnisse zu schließen)

In diesen Definitionen kann man eine durchgängig negative Belegung des Begriffs 'Isolation' erkennen.
Im etymologischen Wörterbuch steht unter 'isolieren' :

absondern, vereinzeln
Das besonders in der Partizipalform 'isoliert' auftretende Verb, wurde am Ende des 18. Jh. aus gleichbedeutend französisch: ' isoler' entlehnt, das seinerseits aus dem
italienischen: 'isolare' stammt.
Dies ist von italienischen isola (Insel)
abgeleitet und bedeutet eigentlich:
'zur Insel machen'

Diese Definitionen bringen doch etwas Klarheit. Isoliert ist also der/die abgesondert auf der Insel Lebende. Ein schönes Bild. Warum also diese Panikgefühle des einzelnen Menschen, isoliert zu sein? Isoliert zu sein oder als solches zu gelten, ist ein Tabu in unserer Gesellschaft , fast so wie Krankheit und Tod. Wie weit das auch auf andere Gesellschaften zutrifft, kann ich nicht beurteilen). Selbst die Schönheit hilft einem isolierten Menschen nicht aus seiner Ächtung heraus. Die Gesellschaft bestraft diejenigen, welche nicht mitspielen wollen. Diejenigen, die keine Angst haben, die Vereinzelung, die jeden Menschen betrifft, zu leben. Der freiwillig isoliert Lebende hat schon lange begriffen, daß es vor dem Selbst kein Entrinnen, keine Projektion auf andere Menschen gibt.

Jeder Mensch ist in seinem Körper, seinem Denken strikt isoliert. Der ganze menschliche Körper besteht aus Isoliermaterialien, die die Säfte voneinander isolieren. Das wichtigste Sinnesorgan, die Haut, isoliert unseren Körper von der Außenwelt. Ohne diese Hülle ist kein menschliches Leben möglich. Kontakte bestehen hauptsächlich aus Augenblick und Hautberührung. Alles, was von außen nach innen dringt (ich sehe jetzt von Materialien ab), wird von einem zweiten, imaginären Isomaterial, dem Bewußtsein, abgefangen. Dieses Bewußtsein bestimmt, was in Tun und Lassen übergeht. Das Bewußtsein ist wiederum gegen das Unterbewußtsein abgeschirmt, welches eine Gefahrenzone für jeden Menschen darstellt, der nicht isoliert sein möchte. Hier lauert das Alleinsein mit sich selbst. Der Bereich, in dem keine Ablenkung möglich ist. Ein Übergang, eine Vereinigung mit anderen Körpern ist nicht möglich, au ch wenn sich manche im Sex der Illusion hingeben, es sei anders. Nur weil man ähnlich denkt, heißt das nicht, daß man deswegen plötzlich nicht mehr allein wäre. Nur weil man Unterstützung von außen bekommt, heißt das nicht, daß man nun nicht mehr selbst helfen müßte.
Prosperus sitzt im Sturm allein mit seinen Büchern auf der Insel fest, umgeben von Intrigen, die die Kommunikation unter den Menschen darstellen sollen. Ein isolierter Mensch ist also nicht, wie die Definition von den Leitern, vom Durchströmen der Informationen abgeschirmt.

Am Computer hat sich eine neue Generation der Isolierten, vermeintlich Nicht-Isolierten herausgebildet. Sie sitzten heute am Computer und chaten. Sie wissen, was die Menschen in der ganzen Welt denken, denken auch selbst so und sind trotzdem in sich, in ihrer Computerkammer gänzlich von dem isoliert, was andere Menschen unter Gemeinschaftsgefühl verstehen. Eine Unzahl von Kontakten vermitteln Geborgenheit, die mit Telefongebühren bezahlt werden müssen. Eine freiwillige Isolation, um sich scheinbar mit vielen anderen Eins zu fühlen. Isolation getarnt als Worldfamily. Aber auch im Internet muß man sich den Konventionen anpassen, sonst fliegt man raus oder es redet einfach keiner mit einem. Auch hier keine Chance für den wahrhaft Isolierten!

Ein Mensch, der gelernt hat, mit sich allein zu sein, sich selbst zu beschäftigen, die Ursachen für sein Handeln und sein Schicksal in sich selbst zu suchen, wird sich nicht wirklich als isoliert bezeichnen, wenn damit die negative Auslegung gemeint ist. Dieser Mensch wird wahrscheinlich wissen, daß menschlicher Kontakt und Meinungsaustausch meistens ziemlich überflüssig und zeitraubend ist, zumeist auch für den Einzelnen in eine völlig falsche Richtung führen. Die gesamte Medienkultur ist für Menschen gemacht, die das Dargebotene für wahr nehmen, sich damit identifizieren und darüber scheinbar ihrer Einsamkeit entfliehen wollen. Menschen, die nur durch die Darstellung ihrer scheinbaren Nicht-Isolation existieren. Interesse heucheln, um selbst Interesse zu wecken. Die späte Gewißheit am Lebensende, daß doch jeder allein ist. Sicher gibt es auch viele Menschen, denen es gelungen ist, in einer intakten Gemeinschaft zu leben, das ist aber in unserer Gesellschaft die Ausnahme. Alte Menschen sind heute einsam, weil sie nicht gelernt haben, allein zu sein und weil sich niemand um eine Person kümmern will, die ihn gesellschaftlich nicht weiterbringt. Anerkennung als Definition der Nicht -Isolation. Die Einsamkeit hängt wie ein Pesthauch über den Deliquenten.

Isolation, eigentlich der Ausdruck der Autonomie, verbreitet Angst und Schrecken über eine Gesellschaft, die das Ausstellen von falschen Gefühlen und Statussymbolen als Gemeinschaftsgefühl betrachtet, die um jeden Preis das Zugehörigkeitsgefühl sucht. Massenveranstaltungen sind modern (Fußballspiele, Love Parade), sie geben für Stunden und Tage das Gefühl nicht allein zu sein. Das richtige Outfit, und schon bist du dabei, und wenn du noch ein bißchen nett bist und die richtigen Worte der Gruppe findest, hast du auch schon nicht mehr das Gefühl, einsam zu sein. In einer Gesellschaft der Nicht - Isolierten ist eine Integration des Fremdartigen nicht möglich, dafür ist die Angst vor einem nichtdefinierten Verlust zu groß.
Was ist ein Mensch, der nicht über Filme, Musik, Mode, Theater, Politik und Wirtschaft sprechen will? Was ist ein Mensch, der sich eigentlich am liebsten überhaupt nicht mehr unterhalten möchte, weil ihm alle Worte hohl erscheinen? Er gilt natürlich als Autist, oder sonstwie anomal. Normalität ist, wenn man sich an alle Umgangsformen hält und versucht, nicht aufzufallen. Das gilt auch für diejenigen, die scheinbar auffallen, aber dadurch auch in ihrer Gruppe als normal gelten.

Ist das Gemeinschaftsgefühl nicht in einer Zeit geboren, in der der Einzelne in der Natur nicht überleben konnte und so notgedrungen nur in einer Gemeinschaft real überleben konnte? Aus einer Zeit, in der nur die Familie ein Überleben garantierte?
Dies ist heute nicht mehr notwendig. Auch der Einzelne kann überleben. Auch der einzelne kann sozial denken. Anpassung hat nichts mit eigenverantwortlichem Handeln zu tun. Nur eigenverantwortliche Menschen können auch Verantwortung für andere übernehmen, ohne ausschließlich gesellschaftlichen Konventionen zu folgen. Wer immer nur zusieht, seine eigene hilflose Seele unterzubringen, wird sich nie um die anderen hilflosen Seelen kümmern wollen und können.
Ein isolierter Mensch ist dies aus eigenem Antrieb. Es sei denn, er ist wirklich psychisch krank. Ein freiwillig - Isolierter wird erkannt, auch wenn er sich verstellt, und wird deswegen erneut isoliert, weil seine Anpassung nicht echt wirkt, er wird nicht für voll und wahr genommen. Ein unbestimmtes Gefühl, daß mit ihm etwas nicht stimmt, läßt die Menschen abwehrend reagieren. Die Angst vor dem Anomalen läßt die Alarmglocken klingeln. Da ist jemand, der nicht normal reagiert, der die Wirklichkeit auf den Kopf stellt, der Fragen stellt, die niemand hören will und noch weniger beantworten. Einer, der die Ordnung gefährdet, die ja doch eine gewisse Sicherheit vermittelt. Instinktive Ängste setzen ein, Verlustgefühle und Revierverhalten.

Ein solcher Mensch ist wie eine Burg, die man angreifen muß, um sie auszuhungern. Das Einzel,- bzw. Außenstehende ist eine Gefahr für das Machtgefüge. Unkontrollierbar, undurchschaubar. Burgmauern, von denen man nicht weiß, welches Monster sie beherbergen. Die Isolation wird nicht akzeptiert, die Mauern werden zerlöchert, die Einwohner herausgezerrt, die Burg bis auf den Grundmauern zerstört. Die Burg auf einer Insel ist der Inbegriff der Provokation. Nicht wissend warum, wird angegriffen. Man fordert eine Macht, die nicht verstanden wird und mit der man nicht umgehen will, heraus. Das Ergebnis ist Zerstörungswut, aus Wut darüber, daß man sich selbst nicht versteht. Den Spiegel zerbrechen, der einem die eigene Unzulänglichkeit bis ins Detail darstellt. Ungreifbare Angst gegenüber dem Fremden. Sie begreifen ihr Nichtwissen als Makel, und reagieren mit unreflektierter Aggression. Schlauere Nicht-Isolierte betragen sich wie Freunde und versuchen sich so den Zugang zur Burg zu erschleichen. Ihnen bleibt zwar die Ausspionierung des Inneren, aber auf Grund ihrer unerträglichen Langweiligkeit werden sie bald von dem Monster hinauskomplimentiert. Daß in der Burg wirklich ein Monster lebt, werden sie bezeugen, aber es sei so langweilig, daß es ein leichtes sein wird, die Burg zu erobern. Dabei haben sich schon viele verschätzt und mußten die Burg zuletzt als uneinnehmbar erklären.

Wollen wir mal nach diesen Ausführungen eine Neudefinition des Wortes 'Isolation' wagen?

1. Lebensform am Ende des 20. Jahrhunderts
2. Weitgehende Autonomie gegenüber bestehenden gesellschaftlichen Konventionen und / oder Normen
3. Selbstreflexives, überschauendes Denken
4. Häutchen, Membrane, Därme, Gefäße, Kanäle, Röhren, Wände
Isolierte Leiter, die von einem übergreifendem System durchblutet werden

Foto: Birgit Wudtke