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. . . . Die zweite Haut Unser Nachbar war ein stiller Mann. Wenn er sprach, klang seine Stimme immer etwas gepresst, als ob die Töne nicht durch seinen Kehlkopf wollten, aber dann doch mussten. Auch im heissesten Sommer trug er Rollkragenpullis, einen breiten Hut, lange Hosen. Die Haut seiner Hände, die ich eigentlich nur zweimal sah, ebenso wie man immer nur die unbeschattete untere Gesichtshälfte zu sehen bekam, schien wie Milchglas. Ich glaubte damals so etwas wie Bewegung unter der Oberfläche zu erkennen. Als ich diese Beobachtung beiläufig meinen Eltern gegenüber erwähnte, reagierten diese heftig. Ich solle den Herrn in Ruhe lassen, schließlich würden wir bei ihm zur Miete wohnen und nicht umgekehrt. Der Herr wäre Schriftsteller und die wären nun mal etwas merkwürdig. Ich wurde aufs Strengste angehalten, ihn nicht anzustarren und auch nicht anzusprechen, sonst würden wir unsere Wohnung verlieren. Das wollte ich natürlich nicht, denn wir bewohnten eine sehr schöne Wohnung mit einem kleinen Garten. Da der Nachbar sehr selten zu sehen war, vergaß ich ihn und sein Äußeres bald. .
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Jahre später ließ mich der erste Liebeskummer in einer Vollmondnacht auf der Gartenmauer sitzen. Da öffnete sich die Balkontür des Nachbarhauses leise und der Herr trat hinaus ins helle Mondlicht. Er konnte mich nicht sehen, denn ich war im Schatten unter herabhängenden Zweigen gut verborgen. Er begann sich auszuziehen. Eine Wolke verhüllt den Mond. Als er nackt war, breitete er die Arme aus, die Wolke zog weiter, und das Mondlicht durchleuchtete einen glasartigen Körper. Ich konnte alle Organe erkennen, wie sie arbeiteten und pulsierten. Bei diesem Anblick stieß ich einen schrillen, durchdringenden Schrei aus und fiel von der Mauer. Im Fallen hörte ich noch das tausendfache Klirren zerbrochenen Glases .... |
In den folgenden Wochen bekam das Haus unzählige Risse und bei Wind hörten wir alle ein Stöhnen. Als während eines Sturms das Dach abgetragen wurde und der Balkon des Nachbarn abstürzte, hatten wir die Nase voll und verließen wie die Ratten das sinkende Schiff. Jahrelang dachte sie nur daran, wie sie sich schöner machen könnte. Aber als sie sich heute wie immer im Schaufenster spiegelt, glaubt sie einer Fratze entgegenzusehen. Von diesem Moment an beobachtet sie die Reaktionen der ihr auf der Straße entgegenkommenden Menschen. Und sie achtet darauf, ob diese Menschen sie ansehen, bemerken. Das hatte sie früher nie getan. Und sie sieht, daß niemand sie sieht, daß auch in den letzten Jahren, als sie sich noch für schön hielt und sich immer schöner machen wollte, sie eigentlich nicht beachtet worden ist und ihr fällt plötzlich schlagartig ein, daß sie seit Jahren mit niemandem mehr gesprochen hat und daß ihr seit Jahren kein einziger Mensch aufgefallen war, außer ihrem Spiegelbild. Als sie sich nun so umgeben sieht von Menschen, die durch sie hindurchsehen wie Luft, nimmt sie einen Anlauf und springt durch die Schaufensterscheibe, in der sie sich jahrelang nur selbst gespiegelt hat.
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