Nana Petzet

Träume

Di, 4.10.94
Habe den ganzen Tag erfolgreich vertrödelt, obwohl sehr viel zu tun ist. Jetzt will ich um fünf nach fünf Uhr nachmittags langsam mit dem Arbeiten anfangen, mir vorher aber noch den Luxus leisten, das I Ging zu befragen. Ich frage das I Ging: "Wie soll ich mein come back gestalten?"
Ein Luxus ist das. Vor allem deshalb, weil ich das Orakel mit Hilfe von Schafgarbenstengeln befrage, die ich damals im Tschernobyljahr in Straubing gepflückt habe. Das dauert statt fünf Sekunden (Münzen) fünfzehn Minuten.

Ich habe ausnahmsweise keine Wandlungen, das spart Zeit beim Lesen:
Meine innere Sammlung bestand heute darin, daß ich zuerst nicht aus dem Bett kam und mich dann im "Atelier" gleich wieder hinlegte, nachdem ich eine Portion Nudeln in mich hineingeschaufelt hatte. Im Schlaf träumte ich, war sehr tief weg. Doch statt die geheimnisvollen göttlichen Lebensgesetze zu schauen, erlebte ich mit Oli einen peinlichen Auftritt bei seiner ehemaligen Galeristin I. K.
Wir radelten an einem Wochenende zu zweit ziellos in der Stadt umher, was, glaube ich, in erster Linie meine Schuld war.
Dann standen wir plötzlich vor Idas neuem Domizil und gingen rein. Niemand war da. Wir sahen uns die Kunst an den Wänden an. Plötzlich hörten wir sie kommen und rannten wie aufgescheuchte Hasen in zwei verschiedene Winkel der geräumigen Wohnung. Irgendwie schaffte ich es rauszuwitschen, als sie drin war. Aber meine Schuhe waren noch drin, und der Oli. Die Tür schlug zu. Ich lief strumpfsockig auf die gegenüberliegende Straßenseite und tat so als ginge ich spazieren.
Ich hörte wie die Tür sich öffnete, hörte deutlich wie I. K. sagte: "Fotzen und Mäuse..." Weil Oli schließlich drin geblieben war, ging ich wieder rein, wo er mit ihr am Tisch saß und plauderte als seien wir eingeladen gewesen. Als wir darüber sprachen, daß wir vielleicht zusammen bei ihr ausstellen könnten, wachte ich auf.


Fr, 24.3.95
Die Zeit war gekommen, die Ausstellung aufzubauen, die Alice mit ihren Freunden Kerstin, Oli, Michael, Manuel und Stefan geplant hatte.
Als Alice mit den Sachen ankam, die sie zeigen wollte, wunderte sie sich, wie weitläufig das Gebäude war. Es schien ihr, als sei das ein guter Ort zum Ausstellen: Ein ehemaliges Fabrikgebäude, leer, weiß, große Räume, zwei Stockwerke. "Wirklich viel Platz hier", dachte sie.
Sie hatte dann die Stelle im Gewirr der Räume gefunden, an der das Ausstellungsgeschehen offenbar seinen Anfang nehmen sollte, denn hier hatten Michael und Stefan an zwei gegenüberliegenden Wänden, am Ende einer Raumflucht, mit dem Aufbau begonnen. Alice stellte ihr Regal mit den kleinen Sachen an die Rückwand, genau zwischen die beiden, und machte sich eifrig ans Werk, ohne auf die anderen zu achten. Denn so war der Plan gewesen, daß die Ausstellung von einem Punkt der Ausstellungsfläche aus "wachsen" sollte, wie es gerade käme.
Alice wollte ihr Regal mit den kleinen Sachen durch eine Glasscheibe schützen, denn sie war vorsichtiger geworden, seit ihr, wie ihr im vorigen Kapitel lesen konntet, ihre ganzen Sachen gestohlen worden waren. Obwohl sie die Sachen alle wiederbekommen hatte, bis auf den Hausschlüssel, der dann ganz brav am Schlüsselbord hing, wo sie ihn in der Aufregung nicht gesehen hatte. Da wandte sich Michael mit der Frage an sie: "Bist Du sicher, daß das mit dem Glas sein muß? Das ist schrecklich museal und läßt den Gegenstand hinter der Präsentationsproblematik verschwinden."
Alice wußte nicht recht, was sie daruf antworten sollte und begann sich umzugucken. Sie fand, daß das recht interessant aussah, was Michael rechts von ihr und Stefan links von ihr an die Wand geheftet hatten.
Aber zu dritt hatten sie bisher nur ein winziges Eckchen der Räumlichkeiten ausgefüllt und dann würde ja hoffentlich bald Oli kommen - wo blieb er nur? - und der hatte wiederum eine große Menge großer Teile und wenn er die montieren würde, dann würde er fünfmal so viel Platz einnehmen als sie Drei zusammen. Und irgendwie wollte sich das in ihrer Vorstellung nicht recht zu einem Gesamtbild fügen. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, sich mit den anderen zu besprechen.
Sie lief, um Manuel und Kerstin zu holen, rief ihnen zu: "Meint ihr nicht, wir sollten jetzt, wo die Arbeiten da sind, noch mal über das Gesamtkonzept reden, wie wir die Räume aufteilen?" Keine Antwort. Kerstin gestaltete gerade einen der großen angrenzenden Räume mit großflächigen, eigenartig beschnittenen Malereien auf Papier, was Alice sehr gefiel. "Vielleicht sollte ich mir auch einen ganzen Raum für mich nehmen? Platz genug ist ja," dachte sie.
Im nächsten Raum hatte Manuel auch schon Raumgreifendes ausgebreitet, so daß es ihr immer unnatürlicher vorkam, sich mit Michael und Stefan dahinten in der Ecke zu drängeln.
Im selben Raum, in dem Manuel arbeitete, war ein Teil der Wände und der Decke mit schwarzen, DIN-A-0-großen Papieren beklebt, die am oberen Rand ein unregelmäßiges Muster aus bunten Rechtecken aufwiesen. Der anschließende Raum war auf die selbe Weise von oben bis unten tapeziert und sie dachte: "Na so wird das Gebäude ja doch noch voll, sieht ja ganz gut aus..."
Zu ihrem Erstaunen war im nächsten Raum ein ihr vollkommen unbekannter Mann, auf einer Leiter stehend, dabei, das Tapetenwerk fortzuführen. Sie sprach ihn an: "Entschuldige, ich kenne dich gar nicht, gehörst du auch zu unserem Ausstellungsprojekt?" "Ich bin von den Privaten", war die knappe Antwort. Scheinbar war er der Meinung, das würde alles erklären.
Alice wagte einen weiteren Vorstoß: "Aber könntest du deine Tapeten nicht woanders im Gebäude anbringen, denn es kommen von uns noch mehr Arbeiten und dann bist du mittendrin in unserem Zusammenhang, obwohl wir dich doch überhaupt nicht kennen!" "Stört dich das vielleicht?" entgegnete er und wandte sich wieder seiner Tätigkeit zu.
Aufgeregt lief Alice zu Manuel und erzählte ihm, was der Künstler gesagt hatte. Manuel meinte achselzuckend; "Der Typ hat mich schon immer verpurzelt." Da fiel Alice aus ihrem Bettchen und war recht froh, daß das alles nur ein Traum gewesen war. In Wirklichkeit waren noch sechs Wochen Zeit bis zur Ausstellung.


Do, 30.3.95
Hatte einen Traum. Es lag viel Schnee. Eigentlich war alles in Ordnung. Ich war mit meiner Familie und mit Paul Andriesse und seinem verstorbenen Bruder Skifahren. Hinter unserem Haus waren Spuren im frisch gefallenen Schnee - ich wollte hinaus und sie verwischen. Als ich zwei Schritte gemacht hatte, versank ich so tief im lockeren, weichen Schnee, daß ich ganz verschwand und in einer Art Schneeglocke saß. Das heißt, für den Augenblick bestand keine Gefahr zu ersticken, solange ich nicht in Panik geriet. Es kam sogar Licht durch die dünne Schneedecke in meine Höhle.
Ein Wort kam mir in den Sinn. Das Wort bedeutete genau so ein Loch wie das, in dem ich gerade saß. Das Wort war ungewohnt, wohltönend, es hatte eine beruhigende Wirkung. Es war ein skandinavisches Wort, und daß ich es irgendwie aus meinem Kopf hervorgekramt hatte, ohne zu wissen, wie es dort hingekommen war, das zeigte meine Verbundenheit mit Island, Oli und Eis und Schnee. Und es würde mir schon nichts passieren. Ich murmelte also das Wort vor mich hin und streckte meine Hand vorsichtig nach oben. Ich konnte sogar die Fingerspitzen rausstrecken, aber die Höhle machte einen sehr instabilen Eindruck. Wenn ich den Fuß, der am tiefsten im Schnee steckte, bewegte, war unter mir kein Halt, jede Bewegung machte meine Lage schlimmer. Wie im Sumpf dachte ich, obwohl ich weder im Wachen noch im Traum jemals im Sumpf gesteckt hatte. Die anderen waren ganz nah, ich konnte ihre Stimmen hören.
Aber wie sollte ich mich bemerkbar machen? Da wachte ich auf und das skandinavische Wort für Schneehöhle (wenn man verschüttet ist) kam mir immer merkwürdiger vor, eine unsinnige Kombination von Buchstaben wie Kinder das machen. Ich dachte, mit diesem neuen Wort ist es wie mit einem neuen Schlager aus alten Tonfolgen und dann meint man, das Lied hätte man schon tausendmal gehört. Dann vergaß ich das Wort.

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