Barbara Jung

Entwurf für eine WebSite

Dieser Text (von Borges)
zitiert "eine gewisse chinesische Enzyklopädie",
in der es heißt,
daß "die Tiere
sich wie folgt gruppieren:
a) Tiere, die dem Kaiser gehören
b) einbalsamierte Tiere
c) gezähmte
d) Milchschweine
e) Sirenen
f) Fabeltiere
g) herrenlose Hunde
h) in diese Gruppierung gehörende
i) die sich wie Tiere gebärden
k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind
l) und so weiter
m) die den Wasserkrug zerbrochen haben
n) die von weitem wie Fliegen aussehen."
(Anfang von "Die Ordnung der Dinge", Michel Foucault)

Die Beschreibung eines Rhizoms von Deleuze/Guattari hat in ihrem Überschwang etwas fast Pubertäres, Wirres, da gibt es Eigenschaften, die sich untereinander ausschließen, unrealisierbar sind, dennoch habe ich diesen Text immer auch als etwas gelesen, was in erster Linie Spaß macht. Ich habe mir den Spaß vorgestellt, den es macht, eine spannende Utopie zu schreiben und verknöcherte Strukturen zu öffnen, ohne daß ein billiges "anything goes"-Schema entstünde. Umso weniger kann ich es verstehen, wenn Wissenschaftler dieser Beschreibung eine Stringenz abnötigen, die schlichtweg nicht da ist, indem sie das Verbot aussprechen, sie wörtlich und konkret zu nehmen, sie intuitiv als Handlungsanweisung zu benutzen, wie es der wenig gebildete Leser, den sich die beiden ja gerade als Adressaten des Anti-Ödipus vorgestellt haben, tun würde. Stringenz erhält diese Beschreibung erst, indem man eine Meta-Ebene konstruiert, von der aus man sogar von einem Rhizom "im strengen Sinne" sprechen kann. Ich denke, das ist ein Widerspruch in sich selbst.
Deswegen möchte ich ein Spiel spielen, ein rekursives Spiel:
Am Beispiel einer Hypertext-Struktur müßte ein Rhizom folgendermaßen aussehen1: (Die Startadresse ist beliebig wählbar.)

"Jeder beliebige Ounkt eines Rhizoms kann und muß mit jedem anderen verbunden werden."2 "Vielleicht ist eines der wichtigsten Merkmale des Rhizoms, viele Eingänge zu haben;"3

Finden Sie nicht, sowas wirkt langweilig und hat so gar nichts zu tun mit einer spontanen, assoziativen Vorgehensweise? Das trifft zum Teil zu, zum Teil aber auch nicht: die einfache Möglichkeit, alles mit allem direkt zu verknüpfen, ist, ans Ende jeder Datei die Liste aller möglichen links zu setzen. Das ist sehr übersichtlich. Interessanter und schwieriger ist es, aufgrund inhaltlicher Verbindungen Sichwörter im Text als links dergestalt zu setzen, daß auch so alle Möglichkeiten erfaßt werden. Das führt dazu, daß jeder Text im Grunde alle Aspekte der ganzen WebSite irgendwie beinhalten müßte, denn sonst könnte nicht sinnvoll auf sie verwiesen werden. Das ist "assoziativ" (zumindest in dem Sinne, daß man den Assoziationen des Autors folgen kann)4, und sehr unübersichtlich. Wenn ich nun das Kriterium der Übersichtlichkeit erwähne, so ist es nur von Relevanz, wenn es möglich sein muß, eine komplexe Information auf einfache Weise vollständig zugänglich zu machen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn es sich um ein Symposiumsprogramm oder die Entwicklung eines Gedankenganges handelt. Es ist nicht der Fall bei spielerischen Experimenten, wo durchaus eine solche Schreibmethode realisiert werden kann, die in der Regel die Eigenschaften eines Netzes und einer linearen Anordnung ohne erkennbare Struktur in sich vereint.
Ein wie auch immer geartetes Konstrukt sollte die Möglichkeit bieten, es vollständig zu erfassen. Denn die Freiheit, etwas anzusehen oder nicht ("Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt."5) entsteht nur, wenn man alles finden kann (und sich nicht sofort verheddert und genervt aufgibt). In einer klaren Struktur kann man am ehesten seinen eigenen Assoziationen folgen und muß nicht an den Verknüpfungen des Autors kleben, als er die links setzte. Man benutzt die vorhandenen Verbindungen so einfach, wie man eine Seite umblättert.
Man muß Hypertext-Strukturen nicht auf das lediglich Sinnvolle reduzieren, die sich auf einmal gefundene funktionale Lösungen beschränken. Deshalb ein Vorschlag eines "order systems". Auch dies ist ein Baum. Ich habe ihn gewählt, um zu zeigen, daß eine formale Baumstruktur durchaus nicht das "Teufelswerk" sein muß, als das sie allerorten betrachtet wird: Symbol von Machtstrukturen und Dichothomien. Die Kritik an ihr ist ja nicht Kritik an der Form, sondern an einem Logos, der Metaebenen über Ebenen legt und Erscheinungen unter Begriffe subsummiert.
Mein Baum ist nicht dichothomisch, denn die Eigenschaften schließen sich nicht untereinander aus. Der übliche Entscheidungsprozeß, der zwischen Bejahung und Verneinung wählt, soll irritiert werden. Sinn dieses Prozesses ist, eine Liste von Eigenschaften zu generieren, die spielerisch zu verschiedenen Erscheinungsbildern hinleitet.
Eine Datei könnte z.B. die Eigenschaften haben: "hat weniger als 5 blaue Punkte, aber mehrere konzentrische Ringe, die Farbe Grün kommt nicht vor." Es soll eine Überraschung sein, wie das dann letztendlich aussieht.
So kann es am Ende passieren, daß die Beschreibung eines Autors (unter unorthodoxen Aspekten betrachtet) mehr mit irgendeinem Terminplan gemeinsam hat als mit den Beschreibungen anderer Autoren, so wie bei Deleuze ein Arbeitspferd mehr mit einem Ochsen gemeinsam haben kann als mit einem Rennpferd, wenn man von seinen Affekten ausgeht.6
Die Pointe dieses "order systems" ist, daß auch auf diese Weise zu jeder Datei der WebSite gelangt werden kann. Bei der Gestaltung der Dateien müssen diese auf den Eigenschaftskatalog abgestimmt werden. In einer konventionellen Struktur beliebig wirkende Attribute von Dateien leuchten vielleicht erst ein, wenn man sieht, daß es in der vorgeschlagenen Struktur ganz andere Gruppen gibt, die auch redundant sein können und somit die aufgebaute "Hierarchie" persiflieren. "Bäume können ... auch in ein Rhizom ausschlagen."7

So, nun ja, "ich stellte mir vor, hinter den Rücken eines Autors zu gelangen und ihm ein Kind zu machen ... Es ist sehr wichtig, daß es sein eigenes ist, weil es nötig ist, daß der Autor wirklich all das sagt, was ich ihn sagen lasse."8


1 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S. 11
2 3 Ebd., S. 21
4 Es stimmt, daß die Vorstellung des Rhizoms eng mit den Möglichkeiten verbunden ist, die ein gedrucktes Buch bietet. Hypertext-Autoren geben Verbindungen immer vor, und nur die Konstruktion einer Suchmaschine bietet annähernd die Möglichkeit "nachzuschlagen". Auch wenn dies grundsätzlich zutrifft, kann man in einem Hypertext, dessen Struktur einsichtig ist, und die man vielleicht schon kennt, relativ frei und assoziativ lesen. Man kann sich wie in einem Buch bestimmte Stellen erinnern und sie nachlesen, vorausgesetzt, man weiß, wie man dorthin gelangt.
5 Ebd., S. 40
6 "...es gibt größere Unterschiede zwischen einem Arbeits- und Zugpferd und einem Rennpferd als zwischen einem Ochsen und einem Arbeitspferd. Weil Rennpferd und Arbeitspferd weder dieselben Affekte, noch dieselbe Fähigkeit haben, affiziert zu werden, das Arbeitspferd hat eher gemeinsame Affekte mit einem Ochsen." Ebd.
7 Ebd., S. 29
8 Gilles Deleuze, Brief an Michel Cressole, in: Kleine Schriften, Berlin 1980, S. 12

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