Hans Kroier

RECYENCE

Sampling als Recycling

KLANGGESCHICHTE

Musik vor hundert Jahren: von der Geige zur Oboe, von der Pauke zur Posaune - in dieser armseligen Klangwelt waren die Musiker damals gefangen. Zur Strafe mußten sie den ganzen Tag Tonleitern rauf und runter spielen und Kadenzen auflösen. Wegen der daraus resultiernden Lustlosigkeit groovte die Musik dann auch nicht richtig. Heute dagegen ist das alles anders. Mit der Groovebox z. B. macht das Musikmachen wieder richtig Spaß. Die Kiste groovt von selbst und produziert geile Sounds bis zum Abwinken.

Nach dem zweiten Weltkrieg begannen innovative Unternehmer in den USA, den Massenmarkt für elektrische Musikinstrumente zu erforschen. Die Kinoorgel war zu diesem Zeitpunkt längst passee und die Versorgung der Kirchen mit elektrischen Hammonds und Wurlitzern allein bot keine langfristigen Geschäftsperspektiven. Um neue Märkte zu erschließen wurde das Musikinstrument zum Musikspielzeug gemacht. Musik nach Farben: einfache Spielhilfen auf der Tastatur der Heimorgel waren die Antwort der Musikinstrumentenindustrie auf ein Problem das sich bald einstellte. Den glücklichen Gesichtern der Kinder, die auf den Werbeprospekten strahlten, konnte in der Wirklichkeit nicht immer entsprochen werden. Denn das Treffen der richtigen Tasten bereitete manchmal doch mehr Schwierigkeiten als vom Hersteller vorhergesehen. Automatische Rhythmus- und Akkordfunktionen waren zwar als Motivationshilfe gedacht, doch bewirkten sie oft das Gegenteil. Wenn statt nur einer falschen Note nun immer gleich die ganze Begleitautomatik nach hinten losging, ließen so manche entnervten Eltern das Gerät bald wieder aus ihrer Wohnung entfernen.

Die glückliche Koinzidenz von Punk und Computerentwicklung brachte letztlich die Lösung. Forget about the melodies, forget about the harmonies - der Synthesizer ist eine Soundmaschine. Das Durchsteppen von Soundbänken und spielerische Herumdrehen an Klangparametern hatte mehr Chancen, zur massenhaften Freizeitaktivität zu werden als die zeitraubende Beschäftigung mit Notenmusik. Um die Konsumenten bei der Stange zu halten, benutzte die Industrie einen Trick aus der Computerbranche: wer einmal die Hardware kauft wird lebenslang zum Software-Junkie. Auf dem Synthesizer-Sektor führte dies zur bislang größten Sound-Explosion der globalen Musikgeschichte. Die Verfügbarkeit synthetischer Designersounds aller Art ist heute bestimmt kein Problem mehr, besonders nicht mit Internet-Anschluß.

SOUNDRECYCLING
STATT SOUNDSYNTHESE

Bei diesen Marktstrategien wurde jedoch eines übersehen: eigentlich braucht kein Mensch neue Klänge, wenn es schon genügend alte gibt. Die in den letzten 50 Jahren aufgenommenen Tonträger stellen ein Soundreservoire ohne gleichen dar. Heute wird es immer schwieriger, dem Käufer klarzumachen, warum er eine überteuerte Sampling-CD mit mittelmässigen Sounds kaufen soll, wenn er schon 500 Audio-CDs mit wesentlich besseren zuhause hat. Niemand weiß wieviel Datenspeicher heute schon in Studios mit überflüssigem Soundmüll verstopft werden. Ein Berg von digitalem Datenschrott türmt sich auf einen älteren analogen.

Der Sampler als Recycling-Maschine hat in den Achtzigern einen zweifelhaften Ruf abbekommen und befindet sich damit in Gesellschaft der hinlänglich bekannten Bio-Nepp und Öko-Fake-Wellen. Im Extremfall wurde er zur Wunderwaffe der Hit-Strategen, Ausdruck der noch dominierenden fordistisch-industriellen Denkweise im Musikbusiness. Die Unkalkulierbarkeit des Publikumsgeschmacks, notorisches Problem der fordistischen Musikindustrie sollte in deren Visionen mit Hilfe des Samplers ausgetrickst werden: der Hit vom Reißbrett, systematisch zusammengestückelt aus den erfolgsträchtigsten Ingredienzien vergangener Hits. Mit Recycling hat das soviel zu tun wie ein Antiquitätenladen am Kudamm mit dem Einmarksparadies vom Moritzplatz.

Ebenso unvereinbar ist effektives Soundrecycling mit dem Verfahren mancher Sampling-Künstler, die den Sampler als Zitiermaschine benutzen. Das Wissen um die Herkunft der Quellen darf keine Voraussetzung für das Verständnis von Recycling-Musik sein. Sie sollte zwar recherchierbar bleiben, jedoch würde ein ausdrücklicher Verweis auf die Quelle immer den Eindruck erwecken, als wolle man an ihrer kultureller Bedeutung teilhaben. Deren Celebrität ist für Recycling-zwecke völlig unwichtig. Sound-Recycling erfordert vielmehr einen Zustand weitgehender kultureller Entwertung, der eine Neuaufladung möglich macht. Entsemantisierung ist die Voraussetzung für die Wiederverwertung zur Erzeugung neuer Klanggebilde. Bevorzugt zu samplen ist daher Musik, die bereits mindestens einen Verwertungskreislauf durchlaufen hat und an der momentan keine weiteren Verwertungsinteressen bestehen.


ZWECKENTFREMDUNG VON MUSIKSPIELZEUG

Die ökonomisch-technologische Grundidee von Techno beruht auf der Zweckentfremdung von Musikspielzeug. Consumer-Elektronik wird als Produktionsmittel mißbraucht. Ihre einfache Bedienbarkeit, die ursprünglich als Werbemaßnahme zur Erschließung neuer Konsumentenschichten gedacht war, ermöglicht nun die hocheffektive Musikproduktion im Wohnzimmerstudio.



Klangsynthese und Sampling sind die beiden Schlüsseltechnologien, die die Musikentwicklung in den vergangenen zehn Jahren vorangetrieben haben. Gegenüber dem Synthesizer-User ist der Sampling- Artist jedoch strukturell im Nachteil. Während sich die elektronische Musikproduktion in einem geschlossenen System bewegt, das durch eine vorbereitete Benutzeroberfläche gesteuert wird, bedeutet Sampling die Auseinandersetzung mit einer Realitätslücke, für die noch keine Software existiert. Das Gehör und Klanggedächtnis des Musikers werden zum Nadelöhr und Verbindungsglied zwischen der digitalen Welt und der Welt der realen Musik außerhalb. Genau hierin liegt das kreative Potential des Samplers, aber auch der Arbeitsaufwand, der seine effektive künstlerische Verwendung zur Sache einer spezialisierten Minderheit macht.


Die Zweckentfremdung eines Samplers erfordert eine Art mentaler Programmierung, die aus einem rückgekoppelten Filter mit verschiedenen Variablen besteht. Dieser Filter ermöglicht das Auffinden recyclingtauglicher Klangbausteine im realen Raum-Zeit-Koordinatensystem. Verschiedene nichtakustische Kriterien wie Alter, Stil, Preis oder Cover der Platte können in die Auswahl eingehen. Entscheidend ist aber die mentale Rückkopplungsschleife, mit der eingehende Daten mit vorhandenen abgeglichen werden, um ihre spätere Verknüpfbarkeit im musikalischen Wiederverwertungsprozeß zu gewährleisten. Diese Rückkopplungsschleife ist nicht nur das eigentliche Enzym des Recyclingvorgangs sondern gleichzeitig der Punkt, an dem sich die Persönlichkeit des Sampling Artist ausdrückt. Ist unser Sample-Finder-Programm einmal gestartet, findet es beinahe selbsttätig einfache molekulare Ketten von ähnlichen oder komplementären Klangbausteinen. Nach diesem mentalen Raum-Zeit-Filter durchläuft das Klangmaterial einen zweiten elektronischen Filter, mit dem einzelne Frequenzanteile aussortiert werden, bevor es digital editiert und abgespeichert wird. Die eigentliche Komposition am Sampler beruht im wesentlichen auf den bekannten DJ-Techniken Cutten, Pitchen, Loopen und Mixen, entspricht also einer Art programmierbarem Mikro-Deejaying. Am entscheidensten ist dabei jedoch das Mixen, die willkürliche Überlagerung nichtzusammengehöriger Samples. Dies ist die eigentliche Soundmaschine, um noch nie gehörte, jedoch vertraut wirkende Klangverbindungen zu generieren.

Mit der Produktion eines Musikstücks ist der Recyclingvorgang jedoch noch keineswegs abgeschlossen. Seine letzte Phase geschieht im Gehirn des Hörers, das erst die eigentliche Klangverschmelzung vollzieht. Es folgt dabei dem Drang, willkürlich zusammengefügtes als sinnvoll zusammengehörig zu interpretieren und meint aus einem Klanghorizont aus Unschärfe und Rauschen immer wieder neue Gestalten herauslesen zu können. Dies bewirkt eine Stimulation des Wahrnehmungsapparates, die von den meisten Hörern als angenehm empfunden wird. Da der konkrete Sample-Mix jedoch das Produkt der Wahrnehmungsfilter im Gehirn des Sampling Artist ist, wird dem Hörer automatisch eine invertierte
'Negativ'-Version von dessen Sample-Finder-Programm ins Gehirn kopiert. Das ist dann die musikalische Kommunikation.


STOP SYNTHETIC SOUND POLLUTION - ENJOY RECYLED SOUNDS!

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