Rainer Jaeschke

Alberts Ausflug

"Albert ist ein Spinner." Dieses Urteil fällte einer von uns. Wer es war, weiß ich nicht mehr. Es ist ja auch alles schon eine Weile her. Und genau genommen: hatte er nicht recht? Wie das Gespräch überhaupt auf Albert kam? Schwer zu sagen. Es war jedesmal so. Jemand erwähnte ihn, irgendwann. Ausser natürlich, wenn er dabei war. Diesmal war er aber nicht dabei. "Albert ist nach Berlin gefahren". "Was will er denn da?" "Er will sich eine Wohnung suchen, ein Zimmer zur Untermiete oder so."
Albert wollte nach Berlin ziehen! Deswegen war er an dem Tag auch nicht dabei. Sonst hätten wir ihn natürlich gefragt, warum er nach Berlin ziehen wolle. Hätte er doch mal erklären können. "Wohnungsmässig kann er sich nur verbessern!" - schallendes Gelächter. Das muß man erklären. Alberts Wohnung war anders als andere Wohnungen, anders auf jeden Fall, als unsere. Eigentlich war es keine richtige Wohnung, keiner von uns wollte so wohnen. Nicht, daß wir viel auf Gemütlichkeit und so geben, aber irgendwie normal soll es schon sein.
In Alberts Wohnung gab es fast keine Möbel. Nur eine Matratze. Und zwei Klappstühle. Obwohl er da schon fast ein halbes Jahr wohnte. Solange kannten wir ihn auch. Ein halbes Jahr. Eingezogen war er kurz nach Ostern. Und bis jetzt hatte er noch nicht einmal einen Kühlschrank. Brauchte er ja auch nicht, er kaufte nie ein, höchstens Pizza. Tiefkühlzeug eben, zum heißmachen. Angeblich waren seine Möbel bei Freunden untergestellt, weil er wohl länger keine eigene Wohnung hatte, aber jetzt hatte er eine, schon ein halbes Jahr. Sie lag schräg gegenüber von unserer, wir konnten immer sehen, ob er da war und was er machte. Vielleicht hatte er gar keine Möbel, er brauchte jedenfalls keine. Manchmal lag er auf dem Boden vor dem Fernseher, aber meistens sah er nicht mal fern. Höchstens Sport und Musiksendungen. Bei ihm in der Wohnung war irgendetwas mit dem Wasser, der Hahn in der Küche ließ sich nicht abdrehen, man mußte immer den Haupthahn benutzen. Auch fürs Klo, ihn störte das nicht. Es war natürlich unpraktisch, aber uns war´s egal. Wir saßen auf dem Teppichboden und aßen Pizza. In großen Mengen. Getränke hatte er immer in seiner Wohnung. Cola, Bier, meistens Rotwein. Das war natürlich mit ein Grund dafür, daß wir ihn gerne besuchten, Rotwein und Pizza. Dazu lief immer das Radio, Albert hatte ein kleines Kofferradio und hörte den Schlagersender. Erst haben wir natürlich über ihn und seinen komischen Musikgeschmack gelacht Sowas hört man ja nicht im Ernst! Abert schon. Albert fand die Musik richtig gut. Super gut nannte er sie. Sie erinnerte ihn an früher, sagte er.
Schmutzig war es nicht bei ihm, jedenfalls nicht schmutziger als bei uns. Und ihm gefiel seine Wohnung, er kam garnicht auf den Gedanken, etwas zu ändern. Er ist überhaupt so: wenn ihm etwas gefällt, wenn er eine Meinung hat, bleibt er dabei. Wenn wir ihn auslachten, das kam schon manchmal vor, lachte er mit. Saß im Schneidersitz auf dem Boden mit einem Stück Pizza in der Hand und lachte mit. Meißtens länger als wir. Daß wir vielleicht einen Grund zum Lachen haben könnten, ich meine, daß wir vielleicht zurecht lachen, fiel ihm nicht ein. Irgendwie ist er unerschütterlich.
Wie bei der Sache mit der Jacke. Er wollte unbedingt die gleiche Jacke haben, wie die, die er immer anhatte. Weil die sich langsam auflöste. Deshalb ist er durch die ganze Stadt gelaufen und hat in jedem Geschäft gesucht, es gab natürlich keine. Wir haben versucht, es ihm zu erklären, das mit der Mode, Autos ändern sich doch auch im Außsehen. Schließlich hat er wohl resigniert, jedenfalls hatte er plötzlich diese schwarze Jeansjacke, die war viel zu groß. Aber er war begeistert. Er konnte all die Dinge, die er immer mit sich herumschleppte, in die Taschen stecken. Irgendwie war er immer beladen mit lauter Zeug. Kleinigkeiten und Ramsch. Er war immer ganz scharf darauf, etwas von den Dingen zu benutzen, wir sollten dann immer sehen, wie nützlich es ist, nie was wegzuwerfen. Meistens haben wir darüber auch gelacht, aber irgendwie hatte er schon recht, wenn jemand plötzlich eine Tube Klebe aus der Tasche zieht, das kann gut ein. Oder ein Werkzeug, beim Radfahren vielleicht.
Einmal vor einigen Wochen haben wir nämlich eine Radtour gemacht, jemand hatte Albert ein Fahrrad geschenkt und er wollte unbedingt einen Ausflug machen, mit Picknick und so. Das war eigentlich das einzige Mal, daß wir etwas unternahmen, irgendetwas anderes, als einfach nur so rumsitzen. Ein paar Mal waren wir im Kino, aber meistens saßen wir bei ihm in der Wohnung oder auf den Bänken vorm Haus. Und jetzt plötzlich dieser Ausflug.
Alles war anders an dem Tag, wir waren auch anders. Vielleicht, weil wir uns noch nie so früh am Morgen getroffen hatten. Absichtlich zumindest nicht. Höchstens zufällig, oder weil wir schon seit dem Abend davor zusammensaßen. Jedenfalls lag so eine seltsamme Stimmung in der Luft, wir waren wohl auch noch müde. Als Albert seinen Fotoapparat aus der Tasche genommen hat wurden einige echt sauer. Wer will schon so verschlafen fotografiert werden. Wir wußten auch garnicht, daß er überhaupt einen hatte. Die Sonne schien und es war schon richtig warm. Jeder hatte irgendetwas mitgebracht, Salate und Getränke. Verpackt war alles in Rucksäcke oder es war auf die Gepäckträger geklemmt. Wir sahen aus, wie diese Fahradtouristen in Italien oder so.
Und Albert hatte tatsächlich ein Zelt dabei! "Wozu brauchst Du denn das Zelt?" - "Man kann nie wissen." Er war immer gerne geheimisvoll, wir haben uns aber nur angesehen und gelacht. "Ob er das überhaupt aufbauen kann?". Albert grinste und tat irgendwie geheimnisvoll. Zumindest kommt mir das jetzt so vor. Aber an dem Tag ist keiner darauf eingegangen. Es war eben auch noch keiner so munter wie er. So früh morgens.
Wir wollten bis zu dem kleinen See im Wald fahren. Es hätte bestimmt auch interessantere Ziele gegeben, aber wir hatten vorher überlegt und sogar abgestimmt und Albert hatte uns überredet. Weil er da wohl schonmal war. Als Kind oder so, genau weiß ich das nicht mehr. Ist ja auch egal.
Die Fahrt war eigentlich ganz schön, so früh morgens. Wir haben dann bei einem Bäcker gehalten und Frühstück geholt. Und dazu Sekt getrunken. Einige waren gleich ganz gut angeheitert, Albert auch, aber der verträgt ja nichts. Als dann bei einer der Gepäckträger fast abfiel, hat er das aber trotzdem schnell repariert, und Fotos davon gemacht. Vorher und hinterher. Wir haben so gelacht wie noch nie! Fotos von einem Fahrrad, wo ein Teil lose ist. Da hat er wohl irgendetwas von gehabt. Und das erste Essen hat er auch fotografiert. Als wir in den Wald hereingefahren sind, wollte er unbedingt ein Picknick machen. Dabei waren wir schon fast am Ziel. Aber wir waren ja hungrig. Unter ein paar Bäumen, Birken oder so, saßen wir dann im Kreis und haben ausgepackt. Der Sekt war natürlich warm. "Die Flaschen legen wir nachher in den See. Zum Abkühlen!" rief Albert. Er wollte alles organisieren. Dabei war das doch ein Ausflug. Wir wollten bloß ein bißchen ins Grüne fahren und Spaß haben. Das hat dann auch einer gesagt. "Nur weil Du älter bist als wir, mußt Du nicht glauben, daß wir ohne dich keine Ausflüge machen können." Jetzt war er beleidigt. Obwohl er sonst immer so geduldig war. Keiner hat das verstanden. Vielleicht wollten wir nur mal sehen, was so passiert. Einer von uns hat jedenfals eine Flasche Sekt geschüttelt und dabei ist etwas auf seinen Fotoapperat gespritzt. Ist aber nicht schlimm gewesen. Daß er gleich so wütend wurde, hat uns wirklich überrascht. Ob er keinen Spaß mehr versteht haben wir gefragt. Und er hat dann noch ein paar Fotos gemacht. Von den Fahrrädern, wie sie gegen die Bäume gelehnt sind.
Wir sind ziemlich bald schnell weiter gefahren, irgendie war das schon komisch. Daß der so wütend werden konnte. Und verstanden haben wir das nicht, wieso wir keine Ahnung haben. Es hatte doch niemand etwas zerstört. Der Fotoapperat war nicht kaputt und was er mit Harmonie meinte, schließlich war es sonst immer klasse. Wenn wir bei ihm in der Wohnung saßen zum Beispiel.Und Pizza aßen. An dem Tag mit dem Ausflug war eben von Anfang an die Stimmung anders.
Nachdem wir am See angekommen waren, haben wir wieder alles ausgepackt und erstmal gegessen. Albert hat die Sektflaschen tief im See versenkt. Vorher hat er sich die Hose ausgezogen und an eine der Flaschen ein Band gebunden, wo ein Plastikring dran hing. Damit der oben schwamm und er die Flaschen später wiederfinden konnte. Während wir noch in unseren Rucksäcken kramten, weil wir schwimmen wollten, hat Albert angefangen, das Zelt aufzubauen. Sein seltsames Zelt, über das er vorher nichts erzählen wollte. Blau war es und groß. Viel größer, als wir es uns vorgestellt hatten. Wir sind alle rausgeschwommen und konnten ihn vom See aus beobachten. "Albert, laß doch das Zelt, Du bist doch kein Zirkusdirektor!" Einer hat ihm zugerufen, daß das Wasser warm sei und er doch auch erstmal schwimmen solle, aber er hat nur gewunken. Dabei wollte er doch an den See, zum baden, vielleicht war es ihm jetzt zu kalt. Das Aufbauen des Zeltes hat aber nicht so ganz geklappt, es war offenbar schon alt, oder es fehlten Teile. Albert hat nämlich noch lange damit zu tun gehabt. Alle sind in der Sonne eingeschlafen oder lagen einfach nur faul herum. Hilfe wollte er nicht. Als es fertig war, sah es merkwürdig aus, etwa so wie ein Gemüsestand auf dem Wochenmarkt. Weil es vorne eine riesige Öffnung hatte, einer hat das auch gesgt und alle haben gelacht. "Das macht nichts", hat Albert gesagt,"Hauptsache es gibt uns Schutz vor der Nacht." Schutz vor der Nacht! Das war vielleicht komisch, wie er so dastand, neben seinem Zelt. Dabei wollten wir die Nacht über garnicht bleiben. Schutz vor der Nacht! Wie im Gruselfilm. Es war zwar nicht kalt, aber wir hatten eigentlich nichts für eine Übernachtung dabei.
Alle sind natürlich erstmal in das Zelt gegangen und haben so getan als ob sie es bewundern. Es war auch wirklich toll, schon ziemlich alt, aber gut. Mit zwei Räumen und einem Vordach. Er hat uns alles genau erklärt. Daß wir nicht naß werden im Zelt und daß es nicht abbrennen kann und so. Wenn wir nicht so müde gewesen wären hätten wir wohl wieder gelacht, war auch komisch. Wie er da die Führung machte und uns alles erklärte. Als ob wir etwas besonderes sind.
Praktisch war es schon, das Zelt. Einer holte später die Sektflaschen wieder aus dem Wasser und die Salate und das andere Essen wurden vor dem Zelt aufgebaut. Es sah richtig klasse aus. Albert machte ein Feuer, das brannte richtig gut. Erhatte Kartoffeln mitgebracht, die er vorher in Folie wickelte. Er legte sie in die Glut, aber sie wurden nur zum Teil gar. Im Grunde war es schon irgendwie toll. Nur die Stimmung war so anders. Wie als wenn man zu Weihnachten etwas geschenkt kriegt, womit keiner etwas anfangen kann. Vielleicht waren wir auch nur zu müde. Eigentlich wollten wir wieder zurück fahren, noch an dem Abend. Haben wir aber nicht gemacht, es war auch schon zu spät. Alle blieben da, lagen einfach so ´rum. Vor dem Zelt, um das Feuer. An dem See war es nicht gerade leise, Seegeräusche eben, Vögel und ähnliches. Was man so hört. Ein paar andere Leute waren auch noch da. Die lachten und spielten Gitarre. Da war wohl richtig Stimmung. Bei uns war es aber nicht so lustig. Wir dösten vor uns hin und tranken den Rest Sekt. Albert war schon einmal hier gewesen, erzählte er. Früher. An dem selben See. Und am nächsten Tag wollte er zum Frühstück auf dem Feuer Kaffee kochen. Einer von uns hat dann noch die neue Lampe von seinem Fahrrad vorgeführt. Das war ziemlich komisch, weil die gerade in dem Augenblick nicht funktionierte. Wir lagen da und haben nur gehört, wie er an dem Schalter gedrückt hat und kein Licht kam. Witze erzählt und ich bin auch noch mal in den See gegangen. Das Feuer war ganz klein geworden, Albert hat es später ausgetreten. Und sich noch die Wolken angesehen. "Morgen früh scheint die Sonne", sagte er und dabei sah er uns der Reihe nach an. Wie wir so dalagen. "Wer friert, legt sich besser ins Zelt, da ist es wärmer." Nach und nach sind wir eingeschlafen. Manche vor dem Zelt und einige drinnen.
Am Morgen waren alle verkatert und nicht ganz aus- geschlafen. Albert hat versucht, das Feuer wieder zu entzünden um Kaffee zu kochen, aber das gelang ihm nicht. Das Wasser wurde nicht heiß genug. Wir hatten auch keine Lust mehr und haben schnell unsere Sachen zusammengepckt. Das Zelt abzubauen ging dann ziemlich schnell. Albert wollte noch bleiben, schwimmen und danach die restlichen Lebensmittel essen, aber wir wollten schon fahren. Gegen elf waren wir wieder zuhause.
In den nächsten Tagen sahen wir Albert nicht, er kam immer spät nach Hause. Und überhaupt war der Kontakt nicht mehr so, wie vor dem Ausflug.
Einmal war einer von uns bei ihm. Zum Pizzaessen, wie immer. Und an dem Abend hat Albert schon geheimnisvoll gesagt, er wolle sich demnächst verändern. Hier würde er nur seine Chancen vertun, oder so ähnlich. Oder er habe hier schon alles genutzt und nichts käme mehr. Keiner hat verstanden, was er damit meinte.
"Was denn für Chancen? Da kann er sich vielleicht endlich mal eine normale Behausung anschaffen. Wo man richtig wohnen kann, mit Kühlschrank."
"Und fließendem Wasser!" Und wir haben alle gelacht. Nochmal so richtig über Albert gelacht. Lachen konnte man ja über ihn.

Fotos: Inge Kielhorn
(für Drucklayout bearbeitet von Ministry of Paul Snowden)