Das Pferd trug ein Kind unter dem Flügel. Es war das Kind des Pferdes, auch wenn es nicht von ihm geboren war.
Das Pferd flog über das Meer. Es kann der Ozean gewesen sein.
Das Pferd tat schwer, den Flügel nicht so weit zu öffnen, dass das Kind mit jedem Schwung aus den Federn rutschte. Und es tat schwer, mit diesem schmalen Schwung zu gleiten.
Das Pferd hielt sich über dem Ozean und das Kind unter dem Flügel.
Der Weg ging weit übers Meer. In der Ferne sah das Pferd Blau.
Bald wusste es nicht mehr, ob das Blau vor ihm das Blau des Himmels oder des Meeres war. Das Pferd flog weiter. Das Blau vor ihm verlor endgültig seine Grenze. Der Horizont war Blau ohne die schmale Verheissung eines Endes.
Das Pferd drehte sich und stürzte. Das Blau gewann seinen Horizont nicht zurück. Das Pferd flog weiter. Das Kind hielt es gut unter dem Flügel. Das Kind hatte sich an den Ort gewöhnt. Es wuchs. Das Pferd flog weiter und Himmel und Meer blieben Blau.
Das Blau umgab das Pferd Tag und Nacht. Es wurde heller und dunkler und manchmal fast schwarz. Doch es blieb Blau.
Das Pferd stürzte vor Müdigkeit in die Tiefe. Es gab keine Tiefe. Die Tiefe war Blau.
Das Pferd legte sich auf den Rücken zum Ruhen. Es gab keinen Rücken. Der Rücken war Blau wie das Ruhen.
Das Pferd floh. Die Flucht und sein Weg waren Blau.
Das Kind wuchs. Es fiel aus dem Flügel ins Blau. Das Pferd flog weiter und das Blau nahm ein Ende in der Welt.
Das Blau wird nie mehr Himmel neben Meer sein.
Das Pferd und das Kind sahen sich wieder im Blau der Reise. Sie trugen ein Kind unter dem Flügel.
Wo seid ihr, fragte das Pferd. Hier sind wir, sagten die Könige. Wo ist das - Hier - fragte das Pferd.
Hier oben sind wir, sagten die Könige.
Wo ist das fragte das Pferd. Wir sind im Himmel, sagten die Könige.
In welchem, fragte das Pferd. Komm, komm hoch und sieh, sagten die Könige.
Nein, sagte das Pferd. Ich komme nicht in den Himmel. Ich bleibe auf der Erde.
Aber es ist der Himmel der Erde, sagten die Könige.
Es gibt nur einen Himmel, sagte das Pferd. Und der Himmel ist weiter als die Erde und er würde niemals zu ihr zurückkommen. Ihr seid im Himmel oder auf der Erde.
Komm in den Himmel sagten die Könige.
Nein, sagte das Pferd. Ich bleibe auf der Erde.
Dann wirst du nie, sagten die Könige.
Ja, sagte das Pferd. Dann werde ich nie.
Das Pferd hielt Wache. Es lebte nahe dem Wasser und nahe dem Mond. Das Pferd kam ihnen zu dieser Zeit näher als zu jeder anderen Zeit, die es kannte. Die Freude darüber verbrauchte sich und das Pferd hielt die Wache wieder gleichmäßig und ruhig.
Das Pferd horchte der Bewegung des Gedächtnisses. Es bewegte sich so leise und fließend, daß es schwer war, die Bewegung des Gedächtnisses Arbeit zu nennen.
An einem Tag legte das Gedächtnis die Arbeit nieder. Das Gedächtnis klappte seine Rippenflügel auf und ein feiner gelber Staub verließ das junge rosa Fleisch mit dem Wind. Das Gedächtnis hielt seine Brust in die Sonne. Der salzige Meerwind strich von den Narben jede Höhe. Die Sonne nahm ihnen jede frische junge Farbe. Und schneller als an jedem anderen Ort verbanden sich die vielen Zeiten in der offenen Brust des Gedächtnis zu einer einzigen.
Das Gedächtnis hatte geatmet und sich erinnert. Es klappte seine Rippenflügel wieder zurück und tat weiter seine Arbeit. Das Pferd hielt Wache.
Die Erde riecht süß, dachte das Pferd. Schon einmal roch sie so. Da hatte das Pferd geglaubt sich zu irren. Es hielt den Duft für die Geliebte der eigenen Vorstellung. Es vermutete den fremden Duft aus anderer Richtung. Die Erde riecht, wie der Honig einer reifen Melone, wohin ich auch trete, dachte das Pferd.
Das Pferd sah auf. Der Duft der reifen Melone entströmte einem Ei in einem Nest. Es war das Ei eines Schmetterlings in dem Nest eines Schmetterlings. Die Schale des Eies verriet weder seine Jugend noch sein Alter. Das Ei ist niemals ein Ei um ein Ei zu bleiben, dachte das Pferd. Die Mutter hatte die Brut im Nest schon freigegeben.
Jeder Gedanke, der das Ei umkreiste, haftete an ihm, wie an einer überzuckerten Frucht. Sie schickt nach erreichter Reife ihren Saft an den Stamm zurück. Keine Frucht übereignet die eigenen Säfte einem ziellosen Spiel. Der Herbst schwemmt in stiller Verbundenheit mit dem Frühling seine Kraft zurück in die Speicher der Erwartung. Nie genügt er sich selbst. Immer ist er achtsam gegenüber seiner Wiederkehr, ohne seinem Lager während seiner Starre ein Versprechen abzuringen. Der Herbst ging fort. Er schwenkte seinen Schritt mit Stürmen und warf die ausgenutzten Laubschuppen des Sommers wie Konfetti nach einem lauten Fest.
Die Mutter hatte ihr Gewicht von der Frucht aufgehoben und war gegangen. Die Frucht hatte nicht einmal die Richtung der Mutter verfolgt. Das Ei harrte trunken im Nachdimmen der Mutterwärme indem gerechten Schlaf bei geschlossenem Gefühl.
Das Ei nahm das Nest zur Nahrung. Es war das einzige Ei und wuchs groß auf. Nachdem es eine Sprache gefunden hatte, nannte es sich zwölf Namen. Für jedes Gefühl das es kannte einen.
Wie groß wirst du, fragte das Pferd. Ich weiß es nicht, sagte das Ei. Jetzt bin ich so groß wie das Nest. Wenn ich größer werde muß ich fliegen, oder ich stürze in die Tiefe. Ich kann aber nicht fliegen, sagte das Ei.
Und deine Mutter, hat sie es dir nicht gezeigt, fragte das Pferd.
Meine Mutter ist gegangen, als ich schlief, sagte das Ei. Das ist viele Jahre her. Sie ist nicht mehr zurückgekommen.
Deine Schale riecht süß, sagte das Pferd. Ja, sagte das Ei. Ich bin reif.
Was wirst du, wenn du deine Schale verlierst, fragte das Pferd. Ich weiß es nicht, sagte das Ei.
Du wirst ein Schmetterling, sagte das Pferd. Ich weiß es. Aus einem Ei wird immer ein Schmetterling. Und weil du besonders groß bist wirst du ein besonders großer Schmetterling. Es ist die Zeit für große Schmetterlinge, sagt das Pferd. Deine Mutter war auch ein Schmetterling. Sie ist weg-geflogen, bevor du erwachtest. Das machen die Mütter von Schmetterlingen so.
Ah ja, sagte das Ei.
Ja, sagte das Pferd.
Du mußt das Fliegen alleine lernen, sagte das Pferd. Dann wirst du ein besonders guter Schmetterling.
Ja, sagte das Ei. Ich will ein besonders guter Schmetterling werden. Ich werde das Nest zu ende verzehren und am Tag des letzten Mahls werde ich zum Flug ansetzen.
Gut, sagte das Pferd. Ich werde warten und später zurückkommen.
Das Ei wuchs. Die Erde bebte. Manchmal so heftig, daß sie Falten riß und Blut aus ihren Wunden trat. Dann beugte das Ei seinen Nacken und gab einen Teil seines Namens in das Blut. Der eigene Name war der einzige Stoff der die Wunde heilte. Das Ei bereitete sich auf den Flug vor.
Du bist als Ei geboren, dachte das Ei. Du kannst nicht als Ei sterben, dachte das Ei. Auch das Ei ist geboren um einen Weg zu gehen.
Das Ei dachte: bin ich nicht einen Weg gegangen, wenn ich weiß, daß ich als Schmetterling leben soll?
Der süße Geruch, der um die Erde lag, blieb. Die Süße in der Luft verdichtete sich, daß kaum noch Luft zum Atmen in ihr war. Jetzt kam das Pferd zurück.
Es wird Zeit, daß du ein Schmetterling wirst, sagte
das Pferd, sonst wirst du als Ei sterben.
Die Erde zitterte. Was ist so schlimm, als Ei zu sterben, dachte das Ei. Dem Pferd entgegnete es nichts.
Die Süße der Luft war so dicht, daß das Pferd keinen Tag mehr ohne schweren Gedanken erwachte. Das Pferd näherte sich dem Ei ohne jede weitere Geduld. Wann immer es zum Ei trat um mit ihm zu reden, drohte es zu ersticken.
Mach was du denkst, sagte das Pferd.
Ich bin ein Ei, dachte das Ei. Und ich bin geboren um ein Schmetterling zu sein. Und ein Schmetterling kann fliegen.
Das Ei sprang aus dem Nest. Es flog nicht. Es fiel. Es schlug in der Unendlichkeit auf, in die die Mutter das Nest entlassen hatte. Die Schale zersprang.
Sie kreiste, bis sie eine Sprache für ihre Namen gefunden hatte.
Das Ei blieb als erschrockene Speise der Unendlichkeit zurück. Es verdorrte nicht und es verfaulte nicht und es wurde nicht verspeist.
Das Ei flog nicht. Es fiel. So habe ich mich doch geirrt, sagte das Pferd. Das Ei glaubte zu fliegen, dachte das Pferd. Ich bin sicher.
Das Ei antwortete nicht mehr.
Es war das Ei eines Schmetterlings, sagten die Könige.
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