Annette Wehrmann
Bandschleifen
"Bandschleifen" thematisiert Luftschlangen als Speichermedium für beliebige Wahrnehmungen & Gedankenverbindungen, Splitter von Sinnzusammenhängen & Unsinn. Das ergibt eine rhizomatische Wucherung austauschbarer Assoziationen, eben ein Hirn. Der nachfolgende Text ist eine mögliche Bandschleife.
Gespräch im Vorübergehen, am 18.8.1995, wir passieren diese Kiez-Kneipe, "Schwemme" oder "Tränke", obwohl sie längst anders heißt, und es ist ein Phänomen, daß sie beständig den Namen wechselt, und man fragt sich: warum? warum wechselt sie ständig ihren Namen? es ist wirklich immer ein Passieren, dort vorbeizugehen, dem nachbarschaftlichen Alkoholikerpulk, dessen eigentliche Heimat dieser Laden mit welchem Namen nun auch immer darstellt, gehört die Straße, und das machen sie deutlich, die, die an Sommerabenden wie diesem auf Bänken davor sitzen und heute waren sie auch alle da, die 2 fetten Riesinnen aus dem Vorderhaus und alle anderen, die eben "die" sind und als solche mir bekannt, aber nicht unbedingt im visuellen Gedächtnis im Einzelnen gespeichert, mehr so als Masse, Inventar der Straße - schließlich lebt man nicht in der Großstadt, um nachbarschaftliche Verhältnisse zu pflegen, auch wenn man nicht umhinkommt, in diesen nachbarschaftlichen Verhältnissen eine wenn auch unfreiwillige Rolle zu spielen, da hilft nur Ignoranz, Ignoranz, Ignoranz auf ganzer Linie! - "die", die man zu allen Tages- und Nachtzeiten dabei beobachten kann, wie sie in diese Kneipe hinein- und aus ihr herauswanken, und im Personenkreis bleiben sie konstant, ein suspekter Bodensatz des städtischen Sumpfes, vielleicht eine akzeptable Position, aber von der ekligen Sorte; sie hatte einige Jahre im Knast gesessen, wegen eines geplatzten Deals mit falschen Goldbarren, und hinterließ ein rosanes, mit Volants besetztes Schlafzimmer, einen Nierentisch mit Springbrunnen sowie die chinesische Porzellanschale, aus der ich meinen Tee trinke, und E. führt wie üblich ihren bissigen schwarzen Köter aus, wie man sieht, ist es eine geordnete nachbarschaftliche Struktur, und H. meinte dann im Vorübergehen, "er", und er hatte dabei eine von "ihnen" im Auge, aber ich schaute vielleicht gerade woanders hin oder dachte an irgendwas oder ich weiß es nicht, also er wäre "ihm" am Vormittag begegnet und "er" hätte 2 Jumboflaschen Wasser bei sich getragen und gesagt, "er" wäre "verzehrt von der Hitze", und das wäre ein schöner Moment gewesen ... desweiteren; H. kommt zu meiner Tür herein und sieht mich an und sagt: "Annette, bist Du da?" ... ... ... 19.8.1995 ein anderer schöner Moment ist natürlich dieser hier, am Strand sich aalend mit dem Gesicht zum Wasser mit Möwen drauf, mit dem Rücken zur Steilküste mit Schwalben drin, und dem Schwirren von den an- und abfliegenden Schwalben ... man läuft eine Stunde vom Bahnhof aus und erreicht diesen Ort, Naturschutzgebiet auf der ehemaligen Grenze, Lebensraum...traum ... ??? ... Darinnen eine junge Frau mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken und sie spricht: "Was für ein Jahr? Ich glaube, ich bin noch nie so glücklich gewesen!" ... 2 mit Fliegen übersähte Frauenkörper. Aber S. meint, mit Fliegen übersähte Männerkörper seien noch besser. Aber das ist einfach nicht wahr, und sie weiß das auch ... ... ... Noch eine Geschichte, belauscht im Café Palermo, Gespräch zwischen einem jungen Mann, der sich als Mitglied einer kommunistischen Splitterpartei outet, und einer Frau, die in der Roten Hilfe tätig zu sein scheint: der Mann sagt, entscheidend sei, ob es einem egal ist oder nicht, daß 40.000 Kinder pro Tag verhungern. Eine Gruppe, die sich zusammengeschlossen hat, um die Welt zu verändern, eine Partei also, müsse, um eben die Welt verändern zu können, eine Erklärung der Welt vorweisen können, die Frage sei, könne man es erklären, daß die 40.000 Kinder verhungern, vorausgesetzt eben, daß es einem nicht egal sei, aber wenn es einem nicht egal sei, dann müsse man auch eine Erklärung suchen, dafür braucht man eine Theorie, um die Frage nach der Veränderung der Verhältnisse abzuklären, das Verhältnis und Gegensatz der Welt, wie sie ist, zu der Welt, wie sie sein sollte. Immer vorausgestezt, natürlich, daß es einem nicht egal ist, daß die 40.000 Kinder verhungern. Die Frau darauf: "Ja, hm, ich weiß nicht - Kommunismus..." - Er: "Was meinst Du denn damit?" - "Ja, eh, was in der Sowjetunion abgegangen ist, was in China abgeht." - "Ja, da brauchst du nur noch Stalin zu sagen, da ist die Reihe komplett, die Frage ist doch, ist das denn Kommunismus, nur weil die sich so nennen, ist mir auch erst mal egal, mich interessiert die kommunistische Theorie zur Veränderung der beschissenen Verhältnisse." Sie war aber eine Vertreterin des Konkreten, das Weibliche mit den Emotionalfloskeln, aber, beeilte sich ihr Gesprächspartner zu versichern, das sei natürlich "auch wichtig". Die Beiden boten einen wahrlich abstoßenden Anblick, ein Abbild jener links-alternativen Ausprägung der im Umlauf befindlichen Gender Roles. Und 40.000 tote Kinder an einem schönen Sommernachmittag auf einer Terasse eines Eiscafés sind eine Redefigur. Bestenfalls.
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