Tanja Dückers

Herzschläge

Ramona lag auf dem Bauch, ihr Speichel lief auf das Laken mit den kleinen Teufelchen darauf. Steve hatte eine Hand unter ihren Busen, die andere unter ihr Becken geschoben und biß sich lustvoll in ihrem Hals fest. Sie stöhnte lauter, legte seine Hand auf eine andere Stelle ihrer Scheide, drückte fester zu und spürte, wie sie implodierte, und dieses Ein-Körper Gefühl sich über ihr, in ihr, um sie beide ergoß.
Ein Körper, ein Rumpf, eine nasse Haut, ein einziges, riesiges, nach allen Seiten glühendes Geschlecht - ein Körper. Sie und Steve. Herrlich - für ein paar Sekunden.
Vera drehte angeekelt den Kopf weg, dann griff sie, mühsam mit einem Arm im Dunkeln fuchtelnd, nach den Oropax neben dem Bett und versuchte, das Vibrieren und Stöhnen, das jetzt schon wieder losging, irgendwie zu ignorieren. Sie ärgerte sich, weil Ramona doch auch wußte, daß sie beide morgen die Mathearbeit schreiben und pünktlich um 7.00 Uhr aufstehen mußten.
Ramona wollte ihre Blase entleeren und setzte sich mit einem Ruck auf. Erschrocken fuhr Vera hoch. Veramona gingen auf Toilette. Veramona stolperten im Dunkeln zurück in ihr großes Bett und versuchten einzuschlafen, beziehungsweise verabschiedeten Steve mit einem kurzen Biß in seinen Hintern, der sich dann aus dem Fenster schwingte.
Am nächsten Morgen stellte Ramona fest, daß ihre Haare jetzt wieder total verknotet waren, und sie beschloß, sie noch schnell zu waschen und ihre tolle Henna-Spülung auch noch auszupropieren. Vera jedoch drängte, daß es schon zu spät sei und sie sich noch schnell ein Pausenbrot in der Küche machen und dann endlich los will. Ramona schleifte ihre Schwester über den grünen, knöchelhohen Flokati und steckte den Kopf gelassen unter die Dusche. Ramona rannte, was sie konnte, um der beleibten, tobenden Frau zu entkommen, in deren Boutique sie nach der Schule oft Neglies oder Netzstrümpfe stahl. Heute war es ein schwarzer BH mit runden Öffnungen für die Brustwarzen gewesen, aber Vera hatte so unsicher geguckt und nicht, wie ausgemacht, Frau Kerber in ein dusseliges Gespräch über Schule und so verwickelt, so daß Frau Kerber plötzlich in einem ungewohnt schneidenden Tonfall fragte: "Was hast du da eigentlich gerade in deine Tasche gesteckt?". Daraufhin hatte sie Reißaus genommen, und wenn Vera nicht so lahm wäre, könnten sie jetzt die fette Frau Kerber abhängen und diesen beschissenen Bus noch erwischen. Sie gab Vera einen festen Tritt in deren weichen Hintern und schleifte sie über das Trittbrett.
Sofort stritten sie sich, atemlos, keuchend, ob sie oben oder unten sitzen wollten. Vera wollte unten sitzen, um zu beobachten, ob Frau Kerber vielleicht ein Taxi nahm und dem Bus folgte, was Ramona für ziemlich paranoiden Schwachsinn hielt, sie wollte nach oben, nach vorne, um richtig rausgucken zu können. Auf der Treppe zerrten beide in entgegengesetzte Richtungen. Ramona spürte wieder diesen unangenehmen Schmerz in der Bauchgegend, dann drehten sie sich die Köpfe zu und sahen sich an: die Eine bleich, die Andere rot vor Wut. Ihre Kinne waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Diesmal gab Ramona nach, sie trat Vera absichtlich auf die Füße, als sie beide im Seitgalopp die schmale Treppe wieder hinunterstiegen, was kräftige, schwarze Abdrücke auf Veras weißen, häßlichen Halbschuhen mit goldenen Emblemen an der Seite, hinterließ - sie hatte dabei sein müssen, als Vera diese im Schlußverkauf bei 'Leiser' nach ewigem Hin- und Herüberlegen leider gekauft hatte.
Abends aßen sie zusammen mit Paula und Andreas, ihren Eltern. Andreas hatte Pizza gemacht, die ganz erträglich schmeckte, aber das Beste war der Schokoladenpudding, in den er noch Haselnuß- und Kokosraspeln getan hatte. Paula erzählte ein bißchen von einer japanischen Touri-Gruppe, die heute das ganze Antikenmuseum in Aufruhr brachte, weil einer die steinernde Aphrodite geküßt hatte - da ging dann gleich die Alarmanlage an, und er fand das Chaos, das er da so eben produziert hatte, so lustig, daß er das gleich nochmal wiederholte - am Ende kam echt die Polizei, Ramona konnte es kaum glauben. Auch Paula erzählte es ziemlich amüsiert.
Ganz beiläufig fragte Ramona Andreas, was Dr. Bayreuth gesagt hatte. Andreas warf ihr einen langen, traurigen Blick zu. Dann legte er seine Hand auf Ramonas Arm und sagte: "Denk an die Sommerferien, das machen wir, das ist fest versprochen, guck mal, es sind nur noch 8 Wochen, dann sind wir in Frankreich und klettern in den Bergen rum, es gibt doch noch schöne Sachen zu erleben..." Ramona sagte nichts und sah nur Veras Kopf neben sich an, das minutiöse Backenzahnmalmen ihrer Schwester vibrierte auch in ihren Ohren.
Sie waren von Geburt an mit einer Wirbelsäule ausgestattet, die sich erst oberhalb des 11. Wirbels V-förmig teilte, das hieß, sie hatten immerhin zwei, wenn auch sehr dicht beieinanderliegende, separate Herzen, ihre im unteren Teil aneinandergewachsenen Lungenflügel fächerten sich nach oben hin in vier Lappen auf. Alle Organe unterhalb des Zwerchfells waren ihre gemeinsamen Organe, aus ihren beiden schmalen Becken wuchs auf einem breiten Knochensockel eine große, sich noch oben verjüngende und sich schließlich spaltene Wirbelsäule - das Hauptproblem, welches jedem operativem Einsatz entgegenstand.
Paula und Andreas gaben sich unheimliche Mühe um Veramona, bis zu dem Punkt, wo sie Ramona zumindest total nervten. Sie waren extra in eine WG gezogen, als Veramona klein waren, um ihnen ein möglichst selbstverständliches Aufwachsen mit gleichaltrigen Kindern zu ermöglichen. Auch jetzt schickten sie Veramona 1x die Woche zum Jazzdance, 1x zum Töpfern, 1x Atemübungen "Breathing" und samstags alle zwei Wochen zu einem Workshop, wo man sein eigenes Kaleidoskop baut - die Idee hatte Paula wahnsinnig gut gefallen.
Ramona hatte ein etwas breiteres Gesicht und einen viel kräftigeren Oberarm ( vom Tennisspielen, während ihre Schwester neben ihr stand und mit hängender Schulter Walkman hörte ), auch ihre Outfits unterschieden sich sehr: Die Änderungsschneiderin ( früher hatte Paula ihnen noch selber entsprechende Kleider gestrickt ) nähte auf der einen Seite immer Lack oder Leder an, auf der anderen Seite Baumwollblüschen und lange Röcke.
Ramona lag im Bett und streichelte sich ihre lange, knallrote Mähne. Neben ihr lag der blonde Pagenkopf von Vera. Ihr Gesicht schien Ramona sehr fremd gerade, und doch hörte sie Veras Herzschlag, ein langsames, gleichmäßiges Pochen, in ihrer eigenen Brust. Ihr eigenes Herz schlug gewöhnlich schneller als Veras, aber manchmal wurde sie so verwirrt, daß sie gar nicht mehr auseinanderhalten konnte, welches ihr und welches Veras Herzschlag war. Das waren Momente, in denen Ramona Angst hatte, wahnsinnig zu werden. Zweimal schon hatte sie versucht ( Selbst- ) Mord zu begehen. Einmal, indem sie mit Vera ( die sich mit Hand und Füßen dagegen wehrte und hysterisch schrie ) vor einen United Parcel Service Wagen rannte. Aber sie kamen nur mit ein paar Knochenbrüchen und einem Leberriß davon. Das nächste Mal, das war, nachdem Vera sich geweigert hatte, ihre Dreierkiste mit Tom, Olli und Steve weiterlaufen zu lassen, nahm Ramona Schlaftabletten. Aber Paula fand sie noch rechtzeitig, da Vera einen Hilferuf-Zettel ( nachdem ihr in sämtlichen Apotheken langsam ein Licht aufgegangen war ) schnell auf die Ablage im Flur legte, als Ramona gerade Steves schmalen Kopf zwischen ihren Oberschenkeln plazierte. Ramona lag auf ihrer schwarzen Samtdecke und streichelte sich gedankenverloren die Klitoris. Irgendwie mußte es doch möglich sein, auch etwas Spaß mit Vera zu haben, wenn schon ihre letzte Hoffnung, Dr. Bayreuth, sie im Stich gelassen hatte. Sie schmatzte laut, was Vera störte, ihr aber beim Konzentrieren half.
Am nächsten Morgen sprang sie auf und schleifte Vera statt zur Schule in die Änderungsschneiderei. Vera hatte nicht einmal genug Zeit gehabt, sich anzuziehen, aber Ramona hatte ihrer Schwester schnell fürsorglich eine rote Federboa umgewickelt.
Frau Jea war Ramonas ausgefallene Kleiderwünsche gewohnt, aber jetzt guckte sie doch etwas überrascht. Eine Woche später kreuzten Veramona wieder bei ihr auf und nahmen für 450 DM, das Geld hatte ihnen Paula für einen Hinter-Glas-Malerei-Workshop mitgegeben, ihr neues Outfit in Empfang. Es war ein Hochzeitskleidanzug, links baumelten zwei schwarze Hosenbeine, ein weißes, gestärktes Hemd mit Fliege und ein schwarzes Jackett. Rechts ein weißes Kleid mit einem schmalen Ärmel für Vera, schrecklich viel Plüsch und ewig langer Stolperschleppe. Zuhause durchwühlte Ramona Paulas und Andreas Zeitungschaos, ach ja, wer nicht alles heute heiraten möchte. Zum Beispiel Gisela, geborene Senf, und Hartmut von Gnatz - um 14.00 Uhr in der Kaiser Wilhelm Gedächtnis Kirche. Vera flog die Tasse Pfefferminztee aus der Hand, als Ramona ihr das Kleid über den Kopf zog. Angst erfüllt horchte sie auf Ramonas heftigen, unruhigen Herzschlag - ein unheilversprechendes Omen. Aber es war zu anstrengend, sich immer gegen Ramona zu wehren, also protestierte sie nicht, als Ramona ihr noch einen weißen Seidenhandschuh überstülpte und ihr ein paar Pappschilder, die sie eben mit schwarzen Lippenstift beschrieben hatte, in ihre Hand drückte.
Pünktlich um 14.00 Uhr standen sie vor der Gedächtnis Kirche, nachdem sie in der U-Bahn noch mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich erregt hatten - zumal Ramona sich noch einen Bart und Koteletten anklebte. In ihrer Hand schleppte Ramona irgendwelche in Blümchenpapier gehüllten Dinge, die Vera nicht erkennen konnte und einen riesigen Eimer mit Kleister. Dann kam das Brautpaar von Gnatz. Als alle in die Kirche drängten und Platz nahmen, nicht ohne daß Veramona nicht schon ein paar hysterische Schreie ausgelöst hatten, stürzten sich Veramona auf Gisela und Hartmut und - Vera traute ihren Augen nicht - Ramona fesselte die beiden blitzschnell mit einigen Lackgürteln von Kopf bis Fuß, Rücken an Rücken aneinander. Dann goß sie den Eimer Kleister zwischen die beiden. Hartmut, der laut schrie, bekam erst einmal einen Schwung ins Maul. Dann legte sie noch eine Morotrradkette um die beiden, die sie in der Hand behielt, und schleifte das Brautpaar durch den Mittelgang der Kaiser Wilhelm Gedächtnis Kirche, deren Pfarrer sich angstvoll an den Altarrand klammerte. Ramona riß Veras Arm hoch und brüllte, was auf den Pappen geschrieben stand: "Ehe-Gefängnis", "Einheitsbrei" und "Bis daß der Tod Euch scheidet" und "Gratuliere: Gismut und Hasela!"
Vera merkte plötzlich, wie sie hemmungslos mitschrie, "Wed-Lock", "Wed-Lock" immer wieder, das hatten sie in New York aufgeschnappt und kam von "wedding" und "to lock", und sie spürte einen unglaublichen Haß in sich wachsen. Hartmut schien es nicht sehr gutzugehen, der halbe Liter Kleister in seinem Verdauungstrakt machte ihm zu schaffen, aber Vera hielt ihr Megaphon dicht an seine roten Ohren und raunte: "Eure Körper werden von heute an zusammenwachsen, parasitenhaft, für immer und ewig. Ihr werdet einander krankmachen und vergiften und nie wieder tun können, wozu ihr Lust habt, und die Ringe um Eure Finger werden schwerer und schwerer..." Vera wurde richtig lyrisch - dann sah sie Ramona an, schob ihr den Bart zurecht und rief laut:
"Roman, möchtest Du mein Gatte werden?" "Oh ja" flüsterte Ramona und fragte zurück:"Vera, möchtest Du meine ausgeleierte Dauervotze werden?" "Ja, ab heut' nacht, mein Lieber'" säuselte Vera, hob ihr Kleid und legte Romans Hand auf ihr Geschlecht.
Sieben Männer in Weiß bahnten sich ihrenWeg durch schreiende Tanten, gestikulierende Onkels, weinende Kinder. Ramona schrie gerade "Ehe-Knast: Bis daß der Tod Euch scheidet!" und holte weit aus vor Hartmuts und Giselas Köpfen mit einem großen Fleischer-Messer, von dem Vera sich erinnerte, wie sie es vor ein paar Monaten geklaut hatten, da ließ Ramona ihren Arm wieder sinken und blickte nach vorne. Da stand, in einiger Entfernung, einem weiteren weißen Mann etwas erklärend, Dr. Bayreuth. Veramona stürzten durch den Gang, kitzelten die heraneilenden Männer mit dem Fleischermesser ein wenig zwischen den Beinen, was diese meist sofort zu Boden gehen ließ und - beide mit rasendem Herzen - sprangen auf Herrn Bayreuth zu. Veramona hoben gemeinsam das Messer und zerteilten Dr. Bayreuth von Kopf bis Fuß in zwei gleich große Teile, die dumpf auf den steinernden Boden klatschten und sich dort gegenüber lagen. "Es ist doch mehr möglich, als sie dachten" murmelte Vera noch, als das Messer schon Dr. Bayreuths Jochbein durchsägte.

Draußen, ein warmer Maitag in Berlin, saß ein junges Mädchen mit zwei Köpfen und vier Beinen am Tisch eines Gartenlokals, trank einen Himbeer- und einen Vanille-Shake und murmelte:
"Und dann gründen wir die Ehe-Los Gmbh, für alle Ehe-Gepeinigten, denen eine Scheidung zu umständlich und langweilig ist, und die sich ein drastischeres Ableben ihres Partners wünschen" - "Du, wir werden noch reich!" Veramonas Augen leuchteten. Dann küßte sie sich zärtlich.



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