Jochen Bonz
Musik, die nicht stört,
ist mehr als einen Pfennig wert
Auf einer Schiene fährt ein Zug. Dummdideldum-didum. Ich fahre gerade häufig von Bremen aus nach Hamburg, mit dem Zug. Weil ich da arbeite. Ich bevorzuge (auch) die langsameren Züge, weil das beschaulicher ist und weil die Typen skurriler sind, ja, sogar die Schaffner. Meine fünfjährige Tochter Rosa sagt übrigens zu allen Schaffner, die irgendwas zu melden haben. Aber ich weiß, solche Ausführungen langweilen schnell. Die Schiene, die Metapher aus der Überschrift, die wollte ich nur gerade dadurch etwas weniger strapazieren, indem ich sie ausschmücke. Die Identifikationsschiene, dieses Bild: eine Schiene im Bau, durch eine Landschaft, die "Geschichte" heißt, mit einem in beschaulichem Tempo fahrenden Zug, mit Menschen drin - es ist der Easy-Listening-Zug der Deutschen Bahnen, genau, ach so. Neinnein, der ist es nicht, weil es hier nicht oberflächlich um einen Hype geht - auch wenn der hierfür wichtig ist - und weil es auch nicht um, bzw gegen den Standpunkt Diedrich Diederichsens geht, mit einem ganzen Rucksack voller Pop-Musik-Theorie-Geschichte(n), auch wenn der und die hierfür sehr wichtig sind. Sondern, es geht nur um eine kleine Identifikationsschiene, als "ein Beispiel" könnte es auch bezeichnet werden, ein Beispiel zum Thema: Popmusik und was man daraus macht; oder auch: Popmusik und auf welche Weise man sie manchmal ganz gut versteht; oder: Pop und Politik. O.K.
Pop und Politik. Oha. In der letzten SPEX, der September-95-SPEX, hat Mark Terkessidis sehr intelligent und klar, also: sehr analytisch, über BLUR als eine Britpop-Band geschrieben, die als Teil einer popmusikalischen Nationalisierungsmaschine funktioniert: indem Britpop als das verspielt-sophisticatede Andere zum möglichst Authentizität-Ausdrückenden US-Amerikanischen Grunge-Ding betont wird. Selten hat jemand in SPEX so klar über Pop und Politik geschrieben, auch nicht Diedrich Diederichsen, der einzige der das eigentlich schon immer und schon lange macht. Oder: Diedrich Diederichsen macht das, das Schreiben über Pop und Politik, ganz anders. Mark Terkessidis betreibt die Analyse von 'Kultur'-Trägern: popmusikalischer Ausdruck, Song-Texte-Ausdruck, Image-Ausdruck, Äußerungen in Interviews, Stellungnahmen der Musikpresse und soetwas, und analysiert das zusammen, zu einem Gesamt-Ausdruck, der auch eine politische Aussage hat. Dagegen schreibt Diedrich Diederichsen eher vom musikalischen, 'kulturellen' Gegenstand her, selbst wenn er, neuerdings oft und gerne mittels Luhmannscher Begriffe, verschiedene 'Systeme/Umwelten' gegeneinander 'unterscheidet' und daraufhin 'Codes' in Beziehung zueinander setzt. Seine Beschreibung des Komplex "Pop und Politik" vollzieht in der Regel das Eindringen der Musik in den Körper des Hörenden nach, ganz selbstverständlich kommt in seiner Schreibweise die Musik im Gehirn (und manchmal auch im Bauch, den Beinen) des Hörenden an und setzt sich dort an Synapsen fest und entfaltet von da aus ihre Wirkung. Während in der analytischen Sicht Mark Terkessidis´ die Musik zusammen mit einem Rattenschwanz an 'Kultur', als Teil eines Diskurses, politisch sich ausspricht, geht bei Diederichsen die Musik rein in einen, selbstverständlich auch aus 'Kultur' gemachten Körper, aber sie geht viel selbstverständlicher so richtig in diesen rein und löst dann auch so richtig was aus: bei Diederichsen dringt die Musik ohne große Umschweife ins Zentrum des hörenden Körpers vor. Da ist kein Schutz. Daher kommt die so oft als überzogen empfundene Interpretation. Musikhören ist bei Diederichsen so, wie wenn man einen Trafo einbaut, in eine bereits funktionierende elektro-technische Apparatur: die Auswirkung ist sofort da, verlangsamt, beschleunigt, jedenfalls aber verändert sie. Zum Beispiel erwächst eine politische Vorstellung. Zum Beispiel: in dem Text zur Whirlpool-LP "Brian de Palma": "... Dabei beginnt das Whirlpool-Album tatsächlich mit einer engen (...), sehr schönen Streichmusik (...), die sich plötzlich wie eine Tür öffnet, um durch ein fulminantes, schätzungsweise Barry White- oder Gamble/Huff-Sample einen weiten, sofortige Befriedigung versprechenden Innenraum zu zeigen, das Paradies der Club-Ideologie, der aber nicht nur weit genug erscheint, um allen Platz zu bieten. Sie zelebriert ein offen-leeres, nur mit physischen Reizen gefülltes Anderssein (...). (...) Alle Körper sind eingeladen." (1) Die politische Vorstellung "Alle Körper sind eingeladen", oder wie Diederichsen es abstrakt nennt: die "Inklusion", kommt aus der Musik. Sie ist aus Musik transformiert, eine prompte Übersetzung. Prompte Übersetzungen dieser Art, aus A wird schwubdiwupp B, funktionieren dann schlüssig, schlüssig für einen Beobachter, der bei der Umwandlung sozusagen zuguckt, wenn Musik wirklich A ist und Politik B, beziehungsweise Variationen in A zu Variationen in B werden: wenn die Welt, in der sich das alles abspielen soll, das, worauf sich sowohl Musik als auch - na - Politik beziehen, wenn das eine Welt aus Zeichen ist. Zeichen sind gut transformierbar. Bei Diederichsen entstehen darüberhinaus - im Zuge der Transformationen von Musik im Kopf - auch sich im Bau befindende Identifikationsschienen, was Strukturen innerhalb dieser Zeichenwelt voraussetzt, für die beispielsweise der Bremer Kulturwissenschaftler Matthias Waltz Namen gefunden hat. Bei ihm sind die Strukturen in einer Welt, die er eine mediale nennt, im Sinne von Zeichen-haft, welche, die einen an die Welt binden, indem in ihnen ein (kulturelles) Prinzip tradiert wird, das 'weiß', daß das Leben im Sozialen einen "Namen" hat. Dieser "Name" ist die Identifikationsschiene, die, wenn vielleicht ja mal ein Zug darauf fährt, auch von anderen gesehen werden kann. (2) Die Zeichen in der Landschaft, also zum Beispiel die Musik, beeinflussen den Verlauf der Schiene. Soviel zum Konzept Musik-Politik-Identifikation-Transformationen.
Und an dieser Stelle nun zwei Entwürfe zum befahrbaren Teil der Landschaften von Easy-Listening-Music, zu diesem ganzen seichten Zeichenwirrwarr. 'Seichtheit' ist allerding erst Teil zwei. Teil eins ist schon 'Glamour' - oder sagen wir 'Camp'?
Letztes Jahr im Sommer war Sebastian in den USA und brachte um die 100 Schallplatten mit. In einigen Secondhand-Schallplattenläden einiger Städte im Südwesten hatte er anhand von Covern eingekauft, Musik, die ihm in ihrer Aufmachung gefiel. Man konnte sich den Inhalt oft so ungefähr denken und das Fach hieß auch immer "Easy Listening" und trotzdem, entscheidend war der Stil, der grafische, Glamour, Inszenierungen, Leben in der Bar, stilvoll beschwingtes, 'Frauen', 'Männer', Herb Alpert auf dem Pferd am Strand und Sergio Mendes mit ganz vielen ganz grünen Pflanzenblättern. Sicherlich, das war nach der Veröffentlichung des Combustible Edison-Albums. Viele der Platten waren berauschend in ihrer Leichtigkeit und Obskurität. Mein Schaffner Sebastian und ich gründeten eine Band, eine moderne Band, ein DJ-Team. Im Moment lege ich Easy-Listening häufig aber allermeistens mit anderen Leuten auf. Boris, einer davon, war letztes Jahr auch in den USA, hat auch Platten eingekauft, auch nach Cover. Er mag auch Leichtigkeit und Obskurität und Stil.
An diesem Punkt sagt Diedrich Diederichsen: Eure Begeisterung ist eine Pest, Eure Freude am Stilvollen ist keinesfalls mehr subversive Hipness, allenfalls Snobismus; und als Identifikationsschiene führt diese direkt in die Angepaßtheit. (3) Das ist vielleicht wahr. Das ist vielleicht nicht wahr. Es ist vielleicht kindisch auf soetwas zu antworten. Vielleicht aber auch nicht. Vieles an Easy Listening, grafische Zeichen und musikalische Zeichen, ist campy. Camp ist nach Susan Sontag eine aus Naivität gemachte Ernsthaftigkeit, in der die Ernsthaftigkeit zwar irgendwo versteckt enthalten bleibt, sie jedoch, indem sie über das Ziel weit hinaus schießt, in erster Linie als Skurilität wahrnehmbar ist - wenn man Camp mag, wenn man auf dieser "sensibility"-Schiene fahren mag und kann. (4) Für Camp als Zeichen heißt das, sie sind nicht einwandfrei richtig oder falsch oder Eines. Für Identifikationsschienen in Camp-Gegenden heißt das, wenn man sich auf die Zeichen nicht verlassen kann, wenn sie offensichtlicher täuschen als andere, dann ist diese Schiene ein Trip zu dem eine gewisse Wagnis gehört. Auf dieser Schiene kann nur etwas wacklig gefahren werden, die Identifikation mit Camp kann keine der üblichen angepaßten, ganzen, mit dem Etablierten Eins-Werdenden sein.
Die Seichtheit der Easy-Listening-Zeichen ist nochmal etwas anderes. Geoff, der eine Musiker von Portishead sagt, "cheesy sounds" seien klasse. Ulf sagt, wenn er mal an einem Abend kommt, an dem ich Platten auflege, zu der Musik könne man sich wirklich ganz ausgezeichnet unterhalten. Joseph Lanza, der eine ganze Muzak-Geschichtsschreibung verfaßt hat, meint das mit anderen Worten auch, weiß er doch, daß sie genau hierfür, als funktionale Musik gemacht wurde, durchaus auch mit unterdrückerischem Impetus. (5) Im Zuge der TEMPO-Get easy!-Veröffentlichung war auch viel davon die Rede, daß im Rahmen dieser Seichtheit ja zum Teil erstaunlich Innovatives geleistet wurde. Das ist, von einzelnen Musikern her geschaut sicher richtig, insgesamt lebt Easy Listening trotzdem von der Leichtigkeit - wenn hier jetzt von der Seichtheit geschrieben wird, und nicht mehr vom Glamour. Die Zeichen der Seichtheit sind eigentlich einfach zu verstehen, bei Easy Listening deswegen nicht immer, weil sie kulturell so übercodiert sind, weil die eigenen Eltern das ja sehr häufig auch schon toll fanden... Das Befahren der Identifikationsschiene durch diese Zeichenlandschaft ("seicht", "seicht", "seicht") ist deshalb auch mit einem Rackern an der jüngeren eigenen Kulturgeschichte verbunden. Diese Seicht-Zeichen sagen: Hier gibts Entspannung mit ein paar bösen Widerhaken. Womöglich waren sie es, die am 7.9., als wir dann auch mal in diesem Pudel das Haus gerockt haben, dazu führten, daß die Glasflasche, auf der das Mikro befestigt ist, explosionsartig zersprang. Bestimmt waren es diese Widerhaken - in der Erscheinungsform ausgesprochen hoher Töne. Wenn ich nur wüßte, welche Platte das war. Ich glaube, diese Schallplatte würde ich in Zukunft meiden. Allerdings nur sie.
Im Südpazifik, auf Rarotonga in der Brasserie Le Rétro, "kämpft das Gesäusel der Hammond-Orgeln gegen piepsende Handys", derzeit; steht in der WOCHE. - Das ist als Zitat doch ein recht schönes, vieldeutiges, nutzloses; ein okayer Ausklang für diesen Text.
(1) Das ist zitiert nach "Wassermusik (aus Schaum geboren)!", einem Text von Diedrich Diederichsen zu Whirlpool Productions, in dem er insbesondere das Verhältnis der Offenheit ihrer Musik zu ihrem Attitude-Auftreten thematisiert. Ein weiteres Beispiel für eine prompte Diederichsensche Übersetzung von Musik in Vorstellungen von Politik findet sich, anhand von New Wave, in: Buch-Handlung-Welt; in: Die Beute 1/94. Sein an die Systemtheorie angelehnter Blick wird besonders deutlich in dem Text zu Singern/Songwritern aus einer Herbst-SPEX letzten Jahres, die ich gerade nicht zur Hand habe. Seinen Blick auf Codes kann man sehr gut in sämtlichen Kritiken zu HipHop, aber auch im taz-Text zu Zappa vom 4.11.1994 nachvollziehen. Seine - zeitweilige? - Vorstellung von der Zeichenhaftigkeit der Welt ist einigermaßen ausführlich in "Gefühlte Paprika - Die politische Subjektivität der Bohème", in: Texte zur Kunst Nr.11, Köln, September 1993, dokumentiert.
(2) Die Waltz'schen Vorstellungen beruhen, irgendwie ganz klar, auf Lacan - und auf einer strukturalistischen Theorie vom Tausch. Waltz erarbeitet seine Theorie von der "Ordnung der Namen" anhand der die Namen ablehnenden Autoren Rousseau und Sartre. Matthias Waltz: Ordnung der Namen, Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre; Frankfurt 1993.
(3) Vgl. "Wassermusik...", a.a.O..
(4) Susan Sontag: Anmerkungen zu Camp; in diess.: Kunst und Antikunst; Frankfurt 1982, im Original 1964 erstveröffentlicht.
(5) Joseph Lanza: Elevator Music - A Surreal History of Muzak, Easy-Listening, and Other Moodsong; New York, 1994. Auf Seite 155, beispielsweise, wird der umstrittene Muzak-Werbeslogan "Boring work is made less boring by boring music" zitiert. Ein lesenswertes Buch.
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