H. Wichmann
Musik im Netz
Die Musikindustrie hat Grund, um ihr Verwertungssystem zu bangen. Anonyme oder pseudonyme Phreaks schicken sich die Sounds, die sie sich zusammensamplen, von Computer zu Computer und bilden damit einen lebendigen Austausch, ohne daß Media Control zwischendurch abrechnen könnte. Es bilden sich dabei Präferenz-Systeme und Hüllkurven heraus, die sich nicht um ihre Charts- oder Dancefloor-Tauglichkeit kümmern brauchen. In der Theorie jedenfalls. Denn das Interesse an dieser Zirkulation wird unvermeidlicherweise gesteigert durch die Konkurrenz zu den bekannten Rankings. Diese werden im aminet beispielsweise heftig imitiert und in überhöhter, überdrehter und übersteuerter Form aufgegriffen. Die Anzahl der Downloads bestimmt unmittelbar die Plazierung in den Listen. Plattencover als Icons zum Anklicken. Im alternativen Chartssystem schmilzt die Zeit der Verhandlung, des Feilschens und des Abcheckens auf Nanosekunden zusammen. Und so klingt dann eben auch vieles, was da an Hardcore, Gabber- oder Cyber-Experimenten zum File-Format zusammengeschnürt und hochgeschickt wird. Das Brachiale, Industrielle und Echt-voll-abgehende tritt den Beweis an, daß es doch genauso funktioniert wie die professionellen Ergebnisse, die man aus der Radiolandschaft kennt. Dr. Alban, Depeche Mode und Front 242 gelten als die großen Heroen musikalischer Innovation und Inspiration. Im Gegensatz zum CD-Format scheint das transparente und fluide Hin-und-her von Dateien im abstrakten Datenraum nicht mit Country-, Lagerfeuer- oder Soul-Musik kompatibel zu sein. Die Perspektive zum Ambient oder Dub zeichnet sich ab. Aber die Gefahr der falschen Meditation ist nicht zu unterschätzen. Wenn alle in ihren - wundersam klingende, perlende und helle Kaskaden reinen Sounds reflektierenden - Wohnkammern sitzen, wird sich die Kommunikation und Begeisterung in andere Galaxien zurückgezogen haben. Der Tanz stellt sich für den Cybernauten in hüpfenden Elektronen dar, die ihre Impulse von Schnittstelle zu Schnittstelle funken. Schnell spinnen sich in diesen Datenräume die Gruppen zusammen. Auf dem schwedischen ftp.luth.se-Server haben sich die KLF ein Fach eingerichtet. Mit listserver-Anbindung oder gar newsgroup potenziert sich natürlich die Produktion von Kult und Mehrwert. Damit kann keine Marketing-Kampagne konkurrieren. Schnell klingt das Echo aktueller Medien-Kampagnen in den Netzen nach. Jemand setzt sich von MTV ab und ist danach mit einer www-page im virtuellen Raum vertreten. Pasolini hat in der "Echolalie" ein Substitutionssystem gesehen, dessen Ergebnis darin bestehe, "daß in der 'vorgelebten Rede' eine fiktiv zerstörte Sprache und eine fiktiv rekonstruierte Sprache gleichzeitig nebeneinander bestehen". Die Radiowellen passen sich immer genauer an die Tagesrhythmen an, was ja auch ein schönes Gefühl sein kann. Man braucht nur den Sendersuchlauf die Frequenzen nach den präferierten Patterns absuchen zu lassen, um wohltemperierte Beschallung zu erreichen. Bei DJ-Shop-Rundgängen (und wo man noch alles hingeht, um sich die dopen Bass Lines und die Funkiness, die Weirdness und crazeologischen Rhymes abzuholen) kann man die pumpenden und nach vorne losgehenden Elektro-Hammer aus den Boxen der Autostereos tönen hören, die verdächtig stumpf nach den noch sehr rudimentären Versuchen im digitalen Format klingen. Das sind alles noch sehr in ihren Anfängen stehende Formen der Ausbreitung und Verwandlung von Musik in die digitale Sterilität. Nicht so sehr die Tatsache, daß mit dem Samplen das ganze Urheberrecht ins Taumeln geriet, als der Umstand der Personalisierung und individuellen Zusammenstellung dekontextualisierter Bruchstücke bestimmt die Technik der Digitalität.
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