Heiko Wichmann
Zerbrochene Ketten
Wir leben in unsicheren Zeiten. Jedenfalls wollen die Medien (mit ihren Katastrophen-Angst-Reality-Produktionen, die für das Schicksal der Schwarzen oder Kurden keine Bilder haben) uns das im Moment glauben machen. Lebensgefährliche Situationen bedrohen unseren Alltag: Kräne lösen sich aus ihren Verankerungen, Schiffe kentern, Haushaltsgeräte verursachen elektrische Schocks, und noch verschiedene andere Objekte reißen sich von den Ketten los, mit denen man sie an die aktuelle Auslegung von Wirklichkeit binden wollte. Die Rettung ist dann aber so wunderbar und unerklärlich, wie die Voraussetzungen der Katastrophe unwirklich sind (vom zufällig anwesenden Helfer bis zum Beistand aus dem Jenseits, vom Traum bis zur Unaufmerksamkeit). Sind diese Sendungen auch kalkuliert und fiktiv, so legen sie doch Zeugnis ab von einer Veränderung, die das gesamte gesellschaftliche und kulturelle Leben (und das Reden darüber) mit sich gerissen hat.
Die Horizonte, in denen wir zu denken und zu leben gewohnt sind, ändern sich, erweitern ihre Grenzen und bilden neue Formen aus. Die einzelnen Begriffe ändern ihre Couleur, gehen Assoziationen mit Begriffen ein, deren Gegenteil sie ausdrücken sollten, und die Verbindungen werden schwächer: "Differenz-Denken" erscheint plötzlich als Ausdruck "essentialistischen Feminismus'" oder gar rassistischen Denkens; das Denken in Strömen, das einmal eine Rebellion gegen Mangel-Ökonomie und Familialismus ausdrückte, richtet sich heute gegen das individuelle Leiden von Emigranten; ökologische Konzepte taugen nur noch zur Verkaufsförderung; in brachialem Punk-Gesang werden fremdenfeindliche Attacken transportiert; und antifaschistisches Engagement sorgt sich um die Normalität, die Übergriffe erst möglich macht ("gegen Nazis und Chaoten"). Viele beginnen schon der Zeit nachzutrauern, als die Konfrontationen und die Spielregeln, nach denen sie sich vermitteln und versöhnen, eindeutig festgelegt zu sein schienen: als man die ganze Wahrheit der politischen Situation der Welt in der Konfrontation Gerhard Löwenthal - Eduard von Schnitzler ausgedrückt gesehen hatte. Überall hört man, daß es so einfach wäre, den eigenen Standort über klar und deutlich vorgegebene Polaritäten zu bestimmen - zwischen denen er sich auch schnell wieder verlieren kann.
Wer nicht in dem medial vorgegebenen Tempo mitdenkt, sich nicht mit den Projektionen identifiziert, schließt sich als politische Kraft aus, marginalisiert seine Subjektivität. Wer sich allerdings in die universale mediale Bilderwelt umstandslos integrieren läßt, bekommt eine Position zugesprochen, die mit allen etablierten Werten austauschbar zu sein hat, um auf diese Weise Irrelevanz zu beweisen. Es herrscht das innerlich angespannte Schweigen (und das angestrengte Reden darüber) und die nichtssagende Betriebsamkeit, die alle Sprachregelungen umstürzt.
Wofür sich noch engagieren, wenn die Begriffe ins Gleiten geraten und die Assoziationen nicht mehr für längere Zeit im voraus bestimmbar sind? Wir haben das brennendes Verlangen nach Neuem nicht verloren - aber wenn das Neue älter ist als das Erworbene? Unser Leben ist politisch motiviert - aber wenn Politik niemals von uns bestimmt sein wird? Wir wollen unser Leben selbst bestimmen - aber wenn die Idee der Selbstbestimmung nur dem Programm der allgemeinen Unterwerfung folgt? - Fragen, auf die im Moment niemand eine Antwort geben kann. Sicher ist im Moment nur die Unsicherheit, zusammengehalten wird das Leben nur noch durch seine Rastlosigkeit, Orientierung liefert nur noch die Umtriebigkeit.
Auf der einen Seite versucht man, das Schweigen zur politischen Aussage zu stilisieren. Die ehemalige deutsche Linke - minoritär, unsichtbar, anti-imperialistisch - freut sich plötzlich über das demokratische Potential der "schweigenden Mehrheit", das sich in spirituellen "Lichterketten" und dem verschämten Tragen von "Stoppt den Haß"-Buttons manifestieren würde, während anti-militaristische Bewegungen nur überwundenen Anti-Amerikanismus wiederbeleben würden. Die offizielle Linke ist in eine solche Aufregung geraten, daß sie ihre Gegner nur noch in den eigenen Reihen sehen kann. Die Begriffe wandern unterhalb der manifesten Ebene offenbar so schnell umher, daß sie im Bewußtsein keinen stabilen Ort mehr finden können.
Aus den offenen Fragen und ungeklärten Begriffen entwickelt sich auf der anderen Seite ein neuer Pragmatismus: Wenn die "Autoritäten" (d.h. die Personifikationen des Spektakels) auf die Fragen im Moment keine Antworten geben, muß ihr Schweigen als Grundlage für eine neue Sprache genutzt werden. Denn: Silence = Death. Das Schweigen der autoritären Stimmen (der transzendentale Sinnverlust) hat die Ebene des immanenten Funktionierens freigelegt und scheinbare Gegebenheiten in Fragekomplexe umgewandelt. Objektivitäten verlieren an Wert. Nachrichten erscheinen nicht mehr als Informationen zu Gegebenem, sondern als Konstrukte, nach denen sich die Masse zu richten habe.
Offenbar können keine Forderungen mehr erhoben werden - denn an welche Adresse sollten diese gerichtet werden, nachdem man sich von der aufklärerischen Pädagogik verabschiedet hat? Vor allem die Formen der Kultur, die Fragen des Stils haben einen schweren Stand - wenn sich mit dem Begriff "Schönheit" nur noch ein unbegreiflicher Zynismus verbindet. Not und Krise diskreditieren Formen des materiellen Überflusses oder emotionalen Überschwangs. Wird sich die Kunst als bloßes Symptom der sozialen Umstände erweisen? Geduldet im Wohlstand, entbehrt in Zeiten des allgemeinen Verzichts? Auch die "Lindenstraße" brachte mit Franz Schildtknecht ihr Opfer.
Tatsächlich ist die Kunst nicht so hilflos, wie es den Anschein haben soll. Kunst ist ihrem Begriff nach der Not entgegengesetzt. Vielleicht schon eine Art "Notwendigkeit" - aber eine erfindungsreiche, strategische, operative Notwendigkeit. Auch die radikale Krise des Kunstmarktes ist kein Naturphänomen, das den Tod der Kunst bedeuten könnte, vielmehr ist sie ein Zeichen innerhalb eines umfassenden überdeterminierten sozialen Feldes. Die Krise ist eine ideologische Konstruktion, die keinen Wert versprechen will - unter Voraussetzung von Minimal-Werten, die es ihr erlauben, sich selbst endlos zu reproduzieren.
Die Massenmedien verlieren immer mehr an Glaubwürdigkeit, je ängstlicher sie sich an ihre eigenen Wirklichkeitskonstruktionen klammern. Die 80er-Jahre, mit ihrer Begeisterung für den Schein und die Vermittlung der Medien, sind vorbei. Das heißt nicht, daß eine Renaissance der klassischen Medien-Kritik erfolgen müßte, die sich immer zu selbstbewußt vom fetischisierten Objekt distanzierte und dagegen nur leere Versprechungen (die reine Wahrheit/Unmittelbarkeit/Aufrichtigkeit des Eigenen) setzen konnte. Vielmehr werden es die medial vermittelten Affekte sein, die in "post-mediale" Qualitäten* übergehen.
Andy Warhol wird wahrscheinlich ebenso als Schlüsselfigur der 60er-Jahre gesehen werden müssen, wie er das Leben in den 80ern bestimmte. Glamour, Schein, Kommerzialität, Traum, Subversion, High Society, Ironie - alle Fäden laufen in einer Figur zusammen. Das Leben baute sich aus kleinen Geschichten und Anekdoten zusammen. Das Zitat und die Bricolage (oder das Patchwork) sind aber längst nicht mehr die Paradigmen der Gegenwart.
Die Informationstechnologie hat eine grundsätzliche Umkehrung nach sich gezogen, indem sie dem Bildschirmereignis seine Einmaligkeit und Unwahrscheinlichkeit nahm. Die gegenwärtige Kultur wird durch Samples, Mixes und Programmstrukturen bestimmt, die sich selbst regulieren. Das Ereignis zeichnet sich durch seine Abrufbarkeit (Verfügbarkeit und Datierbarkeit) aus. Das Monitor-Bild ist unwesentlich geworden. Die wahren Informationen, Schaltungen und Regelungen finden im Unsichtbaren statt. Das Denken muß ins Unsichtbare vordringen, gerade wenn es nicht der Illusion von Unmittelbarkeit erliegen will. Das wird für jeden spürbar sein, sobald das Digitale Video die TV-Ausstrahlung, das E-Mail-Netz die Tageszeitung und die Picture Disc die Zeitschrift abgelöst hat; wichtiger als das Monitor-Bild oder der Objekt-Besitz wird der Besitz von Zugangsberechtigungen (und ihre Umgehung) und die immanente Kenntnis der Wege und Beziehungen zwischen den Punkten sein. Selbst die zwischen Hardware und Benutzer vermittelnde Software wird in den Hintergrund treten, sobald sie von jedem beliebigen Punkt des Systems aus aufgerufen werden kann. Das Zeitalter des "Broadcasting" ist vorbei. Es wird in diesem immateriellen Netz, dessen Verbindungswege nicht einmal mehr aus Kabeln bestehen, keine hervorgehobenen Punkte geben, die das Programm mit Hinweisen verknüpfen. Die TV-Ansagerinnen sind jedenfalls schon verschwunden.
Der amerikanische Film befindet sich in einer tiefen Krise, nachdem die klassische Duell-Situation verschwunden ist. Auf der einen Seite muß er auf die technologischen Entwicklungen reagieren (mit Filmen wie zuletzt z.B. "Sneakers"), auf der anderen Seite zerstört er damit auch seine Voraussetzungen. Die Dramaturgie von Charakter-Konfrontationen und die Illusion der Leinwand wird durch abstrakte technologische Identifikationsmechanismen ersetzt (gestützt auf das casting nach Marketing-Strategie). Ob die amerikanische Filmindustrie noch das Unbewußte in Schwingungen versetzen kann, ist fraglich. Statt Serien wie "Tropical Heat" oder "Beverly Hills 90210" möchte ich inzwischen vielleicht lieber japanische oder auch jamaikanische TV-Produktionen sehen, die sich vermutlich aber auch wenig von ersteren unterscheiden. -- In letzter Zeit starben Marlene Dietrich, Anthony Perkins und Audrey Hepburn - drei symptomatische Tode. Marlene Dietrich, die Glamour-Lady des jungen Films, lebte schon lange in Paris in genialischem Delirium. Anthony Perkins, der schizophrene Junggeselle, starb an Aids. Und Audrey Hepburn starb als Botschafterin, die schon lange keine Filme mehr gemacht hatte. Mumifizierte Video-Gesichter- "Hollywood" existiert schon lange nicht mehr als glorreicher Ausdruck des amerikanischen melting pot; im Zeitalter des staatenlosen Multi-Kulturalismus herrschen anonyme Konstruktionen der Unterhaltungsindustrie wie "Sony", deren Aufgabe die Einführung neuer technolgischer Standards, nicht die dramatische Inszenierung zufälliger Begegnungen ist. Und Billy Wilder wird auch nur deshalb so sehr hofiert, weil seine Ära vorbei ist. Natürlich gibt es noch immer kleine unabhängige Filmemacher, die abseits ihre Arbeit tun: Aki Kaurismäki, Gus van Saint, Eric Rohmer, oder in Deutschland: Christoph Schlingensief, Jörg Buttgereit, Straub/Huillet. Ungeachtet dieser Einzelleistungen muß aber vom grundsätzlichen Abstrakt-Werden der Kultur ausgegangen werden. Dieser Gesamttendenz kann nicht mehr mit Individualismus, sei er auch künstlich, oder Charakter, sei er auch aufrichtig, begegnet werden. Selbst Madonna ist weniger eine selbstverliebte Darstellerin von persönlichen Obsessionen als eine Company, die in verschiedenen Medien arbeitet.
Die Entscheidungs-Anforderungen des Einzelnen nehmen zu. Soll dieser Prozeß nicht in der Privation und Isolation sein Ende finden, wird es notwendig sein, neue Formen von Kollektivität und Solidarität (Szenen und Sub-Szenen) zu erfinden, die weder schweigen, noch mehrheitsfähig sind. In den prosperierenden Zeiten gab es die "Projekte", die provisorische Zusammenschlüsse andeuten sollten; heute schießen "Gruppen" wie Pilze aus dem Boden - deren Arbeit in jedem Fall wichtig ist, auch wenn sie sich auflösen sollten, bevor sie sich noch richtig formieren konnten.
* Der Ausdruck "Post-Medialität" stammt von dem kürzlich verstorbenen Psychoanalytiker und Theoretiker Félix Guattari. Sicherlich meint der Begriff nicht "Transparenz oder eine Unmittelbarkeit der gesellschaftlichen Beziehungen" (so der Vorwurf Derridas gegen McLuhan's hypermediale Vision), vielmehr impliziert das Leben nach den medialen Vermittlungen eine Vervielfältigung aller ihnen vorangehenden abstrakten Beziehungen.^
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