AM NULLPUNKT DER POSTHUMANITÄT . CYBERPUNK -- FRAGMENTE 1)

Wolfgang Neuhaus

 

These days it all changes ...
Nothing stable, nothing static.
Nothing to stand on or to cling to ...
No maps for these territories ,
though they are of our own creation ...
No myths for these countries of the mind ...
Accelerating constantly ,
toward some null point of post - humanity 

William Gibson, Memory Palace

 

 

O. Intro

 

Hierzulande bleibt die Diskussion, wenn es um Cyberpunk (CP) geht, seltsam uninspiriert und marginal. Ganz anders in den USA, wo es eine Fülle von CP -- Produkten gibt: Spielfilme, TV -- Serien, Computer-- und Rollenspiele, Comics usw. Auch die akademische Diskussion ist dort um einiges umfangreicher und lebendiger. Ich versuche eine Bestandsaufnahme, um möglicherweise eine Perspektive für die Unterhaltungsliteratur des nächsten Jahrhunderts zu gewinnen.

 

Die Zeiten werden unübersichtlicher, konfuser, schneller, und wer SF als Spiegel gesellschaftlicher Zustände ernst nehmen will, kommt um neue Anstrengungen der Analyse nicht herum. Ich habe kein Interesse, ein Phänomen wie CP umfassend darzustellen, sondern will einige Mosaiksteine liefern, aus denen sich ein facettenreiches Bild des ganzen kulturellen Spannungsfeldes ergibt, das der CP (als "multimediale" Angelegenheit) meiner Meinung nach thematisch berührt und mitgeprägt hat, wie verschiedene Tendenzen erfaßt, "vor--konstruiert" werden, die mittlerweile deutlich absehbar sind und beginnen, ihren Einfluß auf das gesellschaftliche Leben zu entfalten: die neue globale Situation des Spätkapitalismus (verbunden mit der raschen Entwicklung neuer Medien und ihren kulturellen Effekten), das Eindringen der Technologie in den Körper (was ein neues Nachdenken über Subjektivität und das "Menschliche" notwendig macht) und die "(Wieder)Geburt" der Künstlichen Intelligenz (KI)(die, wenn sie gelingt, eine relevante Begleitung post -- humaner Erkenntnisproduktion sein und vielleicht eine eigene Evolution in Gang setzen kann).

Eine Ausgrabung, was CP als Teil der (literarischen) Pop -- Kultur ist, sein kann.

 

Gibson: "I think the other thing I did that was perceived as being rather radical was to bring all sorts of strange and relatively alternative pop culture into science fiction. ... it was kind of an underground tradition."

 

Welche Beziehung ergibt sich zur sogenannten "Cyberkultur" ? Meine Meinung: der CP ist nachwievor (auch wenn das label veraltet ist) eine Anregung für eine Literatur, die die "hard times" fassen, ausdrücken, "verarbeiten" kann, die durch die (technologisch) bedingten Umbrüche, neue kulturelle "Schaltungen" entstehen. In welche Richtung gehen die Veränderungen ? Im Gegensatz zu "humanistischer" SF --- ein Beispiel wäre die modernisierte Version von "Frankenstein", der die Idee illustriert, daß es Tabubereiche für das menschliche Handeln gibt, die besser nicht angetastet werden --- hat der CP Themen des "Posthumanismus" in die populäre Literatur eingebracht: u.a. die gentechnische Modellierung von Körpern; die Implantation von Mikrochips in das Gehirn; eine allgemeine Stimmung einer "Austauschbarkeit" von Identitäten --- ohne traditionelle Bindungen, ohne Geschichte und in einer neuen "Künstlichkeit".

 

Bruce Sterling: "Diese ´anti -- humanistische´ Überzeugung im CP ist nicht nur irgendein literarischer Kraftakt, um die Bourgeoisie zu schockieren; dies ist alles eine objektive Tatsache der Kultur des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Der CP hat diese Situation nicht erfunden; er spiegelt sie nur wider."

 

Der CP ist eine Literatur, die kein umfassendes Panorama einer Gesellschaft mehr erfindet --- in den Texten finden sich Ausschnitte, Eindrücke, Momentaufnahmen. Ich montiere daher Aussagen von Wissenschaftlern und Schriftstellern, und konfrontiere sie mit Passagen aus Gibson`s "Neuromancer" (Heyne SF--Bd. 4400, München 1988), die diesen Resonanz geben. (Zu einigen Namen, die in den Zitaten auftauchen: Neuromancer und Wintermute sind zwei KIs, die im Hintergrund agieren und sich am Ende vereinigen. Case ist ein "Console--Cowboy", ein Hacker im Cyberspace und Molly eine Berufskillerin, die ein paar implantierte Extras aufzuweisen hat. Dixie Flatline ist ein File, in dem das Bewußtsein eines physisch toten Hackers gespeichert ist, und Marie-France heißt die weibliche Gründerin des Tessier -- Ashpool -- Clans, einer exzentrischen Familie, die im Orbit lebt und nach Unsterblichkeit strebt.)

 

1. Cyberspace und die Globalisierung des Spätkapitalismus

Daß ca. 35000 transnationale Konzerne weltweit die ökonomischen Beziehungen bestimmen, hat schon zu der Vermutung geführt, ob Aliens, wenn sie auf diesen Planeten kämen, nicht Konzerne für die herrschende intelligente Lebensform halten würden. Es läßt sich ergänzen, daß die Aliens schnell erkennen würden, daß diese nicht alles unter Kontrolle hat: ihre Zentralen liegen in relativ ruhigen Zonen hauptsächlich auf der Nordhalbkugel, während in anderen Gebieten Phänomene von massiver Zerstörung und Elend zu beobachten sind. Und sie wären erstaunt, wie ungebremst sich die Lebensform vermehrt, obwohl sie, als ungewolltes Ergebnis ihres blinden Treibens, die Grundlagen ihrer eigenen Existenz gefährdet ...

 

Samuel R. Delany: "There`s a wonderful, almost hypnotic surface hardness to Neuromancer that goes along with its unremitting resistance to any sort of real subjective reading of any of the characters; at the same time, the glitter keeps you trying to peer past it, trying to find levels of depth in which, once you locate them, all you can see is your own shattered reflection. It`s one of the rare pieces of fiction, inside SF or out, ever almost a decade after it appeared, that lets you know there are such things as multinational corporations, and suggests the overwhelming effect they have, all but invisibly, on our lives !" (aus einem Interview, in: Mark Dery (Ed.): Flame wars)

 

Der "Rhythmus einer neuen Ära", der sich im CP ausdrückt. Man bekommt den Eindruck, daß die Metropolen eine Art Spielwiese darstellen, die von einem "stürmischen Meer" umgeben ist. Die Freizügigkeit der Metropolen ist unbestreitbar, was Konventionen, Werte betrifft; auf der Basis eines relativ hohen Grundreichtums gibt es (noch) für den größten Teil der Bevölkerung eine hohe Mobilität, viele Konsummöglichkeiten, eine Überversorgung mit Unterhaltung. Verschiedene Lebenskulturen sind parallel in der Gesellschaft entstanden; die kapitalistischen Industriestaaten sind zum Experimentierfeld stilistischer und diskursiver Unterschiedlichkeit geworden, ohne Normierung (teils positiv), aber auch ohne Utopie. Es hat sich ein kulturelles "Kontinuum" gebildet, in dem die gesellschaftlichen Gegensätze (diskursiv) nivelliert werden und in dem die Lösung für Probleme sehr metropolen -- zentriert abgebildet werden. Ein Selbstbedienungsladen der Ideologien. Die Vielfalt der symbolischen (sub)kulturellen Codes ist auch als Reaktion auf die wachsende technische Ausstattung verschiedener Lebensbereiche zu sehen. Die Technik wird zum neuen "Medium" kultureller Differenzierung.

 

"Ihre Mutter hat einen Job, aber Kelsey weiß nicht, was sie arbeitet. Irgend etwas wie Fernsehen mit Zahlen machen. Wenn die Mutter von der Firma spricht, stellt sich Kelsey ein riesiges Tier vor. Die Mutter lacht, sagt, das sei so falsch nicht. Sagt, die Firma habe Büros in allen großen Städten, gehöre aber nirgendwo hin; nicht nach LA, nicht nach Moskau oder Singapur. Sagt, daß heutzutage Städte und Firmen zählen, nicht Länder." (aus: Fernsehen machen, in: Michael Nagula (Hg.): Atomic Avenue, Heyne SF--Bd. 4704, München 1990, S.59)

 

Ein Ergebnis dieser Ausdifferenzierung ist die Ungleichzeitigkeit der kulturellen Wahrnehmung von Prozessen. Die Elite der Techno -- Kultur, die sich durch technisch strukturierte oder vermittelte Fähigkeiten auszeichnet, ist selbst nur eine Minderheit in der Ersten Welt. Läßt sich ein neues "Dispositiv der Macht" (Michel Foucault) beschreiben, in dem die neuen Eliten repräsentiert sind ? Wahrscheinlich ist das Ende alter Konzeptionen von Politik, da nationale Perspektiven allein nicht mehr möglich sind, um die globalen Probleme in den Blick zu kriegen. Der polnische Futurologe und SF -- Autor Stanislav Lem betont, daß der politische Propagandakampf auf eine Wirklichkeit abgestimmt ist, die im technologischen, materiellen Sinn nicht existiert.

Allgemein läßt sich die Beschleunigung sozialer Prozesse beobachten. Lem formuliert als offenes Problem, daß unklar bleibt, wie man sich dem immer schneller werdenden kulturellen Wandel anpassen kann. Man muß erkennen, daß der Fortschritt widersprüchlicher, komplexer wird. Immer mehr Parameter und Variablen der materiellen Umwelt sind von menschlichen Handlungen beeinflußbar, und es können Situationen entstehen, die nicht mehr korrigiert werden können. Zugleich erfolgt eine immer weitere Verbreitung von technischen Objekten --- es entsteht eine komplexere Umgebung mit Steuerungsmechanismen von Vorgängen, die zum Teil außerhalb menschlicher Zugriffsmöglichkeit liegen.

 

"Der Sararimann war Japaner gewesen, aber die Leute in Ninsei waren Gaijin. Gruppen von Matrosen vom Hafen drüben, einzelne Touristen, die verbissen Vergnügungen nachjagten, die in keinem Reiseführer verzeichnet waren, schwere Jungs vom Sprawl, die mit Transplantaten und Implantaten protzten, und ein Dutzend verschiedene Spezies von Gaunern, alle durchschwärmten sie die Straße in einem komplizierten Reigen von Lust und Kommerz.

Es gab zahllose Theorien darüber, warum Chiba City die Enklave von Ninsei duldete, aber Case neigte zur Ansicht, daß der Yakuza diesen Ort gewissermaßen als historischen Park erhalte, als Denkmal für die bescheidenen Anfänge. Andererseits leuchtete ihm auch ein, daß die wachsende Technisierung Freiräume brauchte, daß Night City nicht wegen seiner Bewohner existierte, sondern als absichtlich ungeregeltes Spielfeld der Technologie." (22/23)

 

Es kann der Zeitpunkt einer kulturell grundlegenden Innovationsschwelle sein, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens prägen wird und die alle irritieren muß, die langsame techno-kulturelle Evolutionen erwarten (wie sie aus der Technik - Geschichte bekannt sind). Diese Schwelle kann eine Diskontinuität darstellen, die Sinn - Kontexte umbricht und neue Perspektiven notwendig macht, ja sogar einen neuen gesellschaftlichen Grundkonsens.

 

Sterling: "In Gibsons Texten finden wir uns auf der Straße wieder, in der Gosse, der muffigen, wo´s ums nackte Überleben geht, wo High Tech ein permanentes unterschwelliges Hintergrundrauschen bildet (...) In seiner Welt ist die große Wissenschaft kein Wunderbrunnen schrulliger Genies, sondern eine allgegenwärtige, alles durchdringende, greifbare Kraft. Die Geschichten zeichnen ein Bild der modernen Misere, das jeder auf den ersten Blick erkennt. Gibsons Extrapolationen führen uns mit überspitzter Klarheit den verborgenen Teil eines Eisbergs sozialen Wandels vor. Dieser Eisberg treibt mit finsterer Majestät durchs späte zwanzigste Jahrhundert, aber seine Proportionen sind gewaltig und düster."

 

Larry McCaffery: "... CP philosophy --- a view combining a matter--of--fact acceptance that technology has irrevocably transformed our world together with a cocky assurance that individiuals possessing enough know--how can ride this Fourth Wave of technological change to places that The System hadn´t anticipated."

 

Die konstitutiven Merkmale der "Postmoderne", wie der Literaturwissenschaftler Fredric Jameson sie beschreibt: 1. neue Oberflächlichkeit (auch festgemacht an einer neuen Kultur künstlicher Bilder) 2. der daraus resultierende Verlust der Fähigkeit, Geschichte aktiv zu erfahren 3. völlig neue emotionale Grundstimmung 4. Abhängigkeit dieser Phänomene von einer völlig neuen Technik (die für ein neues Weltwirtschaftssystem steht) 5. Wandel des Raumgefühls 6. neuer Welt -- Raum des multinationalen Kapitalismus 15.

 

Jameson: "Dabei sollte ein Durchbruch möglich sein zu heute noch nicht vorstellbaren neuen Formen der Repräsentation dieses Raums, mit denen wir wieder beginnen können, unseren Standort als individuelle und kollektive Subjekte zu bestimmen.. Nur so wäre eine neue Handlungs-- und Kampfesfähigkeit zu gewinnen, die zur Zeit in der herrschenden räumlichen wie gesellschaftlichen Konfusion neutralisiert worden ist. Wenn es so etwas wie eine politische Erscheinungsform der Postmoderne geben sollte, so wäre diese dazu aufgerufen, eine globale Kartographie unserer Wahrnehmung und Erkenntnis zu entwerfen und diese in den genau zu ermessenden gesellschaftlichen Raum zu projizieren." (aus: Postmoderne --- Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986, S.100)

 

Die Technik ist nicht bestimmend in letzter Instanz für die gesamte Kulturproduktion, denn die Repräsentationen des Kommunikations- und Computer-Netzes sind nur verzerrte Darstellungen von etwas Tieferliegendem, dem globalen Systems des gegenwärtigen multinationalen Kapitalismus, das mit herkömmlichen theoretischen Mitteln und Vorstellungen nicht zu begreifen ist: das "neue dezentrierte globale Netz des Spätkapitalismus" (Jameson) als spezifischem Netz von Macht und Kontrolle. Das individuelle Bewußtsein muß lernen, die globalen Beziehungen der Verhältnisse zu denken, die seine Existenzbedingungen bestimmen.

 

Gibson: "I think the present is just so weird now that you pretty much need the tool -- kit of science fiction to get a handle on it."

 

Pam Rosenthal interpretiert CP als Medienproduktion, die aufmerksam ist dafür, wie die desorientierenden technologischen und politischen Veränderungen historisch wahrgenommen werden. Es gibt kein zivil -- politisches Leben mehr, aber ein kulturelles in hoher "Auflösung" (mit vielen technischen Details): nahezu jede menschliche Erfahrung kann in der Fiktion digitalisiert werden und billig für den Massenkonsum reproduziert werden. Fazit: es gibt keine allgemein befreiende Techno -- Kultur --- ganz im Gegenteil, in der neuen kapitalistischen Welt "befreit" sich das Kapital in Allianz mit dem technologischen Fortschritt zunehmend von der Notwendigkeit, die Mehrheit der nationalen Arbeiterklasse in die Zukunft zu integrieren: Einführung von niedrigeren Löhnen, Deregulierung des Arbeitsmarktes, Automation. Die Leistung des CP sei, genau zu beobachten, wie sich die Grenzen, Regeln des Systems verschieben und literarisch die Botschaften der dunklen neuen Zukunft vorwegzunehmen, die sich da öffnet. CP (als Literatur, Film etc.) ist die bestmögliche Annäherung, da "formale Mechanismen" der imaginären Verarbeitung erfunden werden, ohne die niemand die tagtäglichen "Sensationen" der Entwicklungen rundherum vergegenwärtigen kann. Rosenthal schließt damit, daß CP eine nützliche Anregung ist, eine "neue politisch revolutionäre Sprache" zu finden. Was sie damit genau meint, bleibt unklar. (Siehe: Jacked in . Fordism, CP, marxism , in: Socialist review 1 1991)

 

Im Laufe der Zeit sind einige positive Bilder um Computer gebracht worden: potentiell (politisch) dezentral organisierbar, potentiell ein massenhaftes kreatives Medium : die Politik, wie sie Timothy Leary zusammenfaßt: "Komplexe elektronische Geräte in die Hand des Volkes ! Falls sich die Kyberpunk-Bewegung ein Ziel gesetzt haben sollte, so wäre dies, dem Individuum die Macht zu verleihen, seine Gedanken auf einem Monitor zusammenzustellen, zu verarbeiten und zu vermitteln." Was die Demokratisierung der Technologien angeht, ist Gibson desillusioniert worden durch ein Erinnerung im Zusammenhang mit den Aufständen in Los Angeles 1992:

 

"an image of people running out of a stereo store with consumable goods. Next to it was an Apple store, but no-one was looting it, running out with Power Books. I felt then that we weren´t going to get to Neuromancer ." (aus: Life after CP , in: i -- D The new look issue 121 1993, S.43)

 

Heiner Müller: "Es ist ein Spiel: Technik gebrauchen heißt auch, sich von ihr gebrauchen zu lassen. Es ist ein sehr gefährliches Spiel, bei dem die Regeln nicht feststehen. Aber ohne Gefahr gibt es keine Entwicklung (...) Es bleiben nur zwei Konzepte: zurück in den nationalen Gemüsegarten oder mit der Technik nach vorn in die Emanzipation von der Natur. Je entwickelter die Technik, desto ökologischer kann sie sein. Das ist eine Frage der Organisation, der wirtschaftlichen Strukturen. Da hat auf lange Sicht die sogenannte freie Marktwirtschaft keine Chancen. Darin liegt auch Hoffnung." (aus: Zur Lage der Nation . Interviews , Berlin 1990)

 

Die Globalisierung der neuen Finanzmärkte, die durch die Revolutionierung der Kommunikationsmittel miteinander verbunden sind, ist ein Aspekt der neuen Welt -

Ökonomie, die von multinationalen Konzernen in größerer Autonomie gegenüber national-staatlicher Kontrolle dominiert wird.

 

Hans G. Helms: "Der ständige Umgang mit computergesteuerten Informationssystemen produziert eine wachsende Abstraktion von den gesellschaftlichen Prozessen. Der Weltkapitalhandel hat sich von den ihm zugrundeliegenden politökonomischen Prozessen abgelöst und folgt seinen softwarebedingten Gesetzmäßigkeiten." (aus: Gesellschaftliche Veränderungen durch elektronische Medien, in: Hermann Sturm (Hg.): Verzeichnungen . Vom Handgreiflichen zum Zeichen, Essen 1989)

 

Ein weltweites Computer--Netz ist auf verschiedenen Ebenen entstanden. Das Internet, die Datenleitungen der Banken usw. Das Ideal ist ein großes freies Kommunikationsnetz, das den Globus umspannt und ein Denkpotential repräsentiert --- ein weiterer Schritt der kulturellen Evolution (weit in der Ferne).

 

Der Begriff "Cyberspace" (CS), der zur Bezeichung dieser Ebenen benutzt wird, hat eine mythische Anziehungskraft. Die Durchsetzung der neuen Medientechnologien wird oft mit ihm gekoppelt:es wird etwas angestrebt, das der literarischen Fiktion des CS "entspricht". Ein funktionierender CS wäre auch das Ende von allem, was bekannt ist; aber : "Echte paradigma -- ändernde Ansätze werden im CS rar sein", schreibt Bruce Sterling, "besonders wenn er von einer technophilosophischen Rhethorik getragen wird, die eine Revolution im Zustand der Menschen proklamiert."

 

Gibson: das Besondere an der neuen Situation ist, daß die Information "außer-geografisch" geworden ist --- im Netz ist es irrelevant geworden, woher sie kommt (der CS ist da, wo über Kontinente hinweg telefoniert wird, da, wo Milliarden Dollar elektronisch transferiert werden, da, wo Daten über Individuen gespeichert werden).

Die Unübersichtlichkeit der verschiedenen Netz - Zusammenhänge wird zunehmen und in dem Maße bilden sich Ideologien und Bilder ihrer Anwendung. Der CP steht dabei für ein Bewußtsein der technologischen Möglichkeiten, auch in dem Sinn, ihr reibungsloses Funktionieren und ihre Unterordnung unter rein kommerzielle Interessen zu stören.

 

"Das Virus von Case hatte ein Fenster in das Steuer--Eis des Archivs gebohrt. Case hackte sich durch und stieß auf einen unendlichen, blauen Raum, von farbkodierten Sphären durchsetzt, die auf ein enges Gitter aus hellblauem Neon aufgezogen waren. Im Nicht--Raum der Matrix besaß das Innere einer beliebigen Datenkonstruktion grenzenlose subjektive Dimension;" (91)

 

Das erzählerische Potential des CS ist nicht ausgeschöpft --- ein starkes Element, das ältere Darstellungen von Computer--Kommunikationen neu faßt und thematisch--strukturelle Wirkungen hat in vielen Bereichen der Pop--Kultur. Man sieht die "falsche" Simulation von Datenbewegungen in einem Netz, die eigentlich unsichtbar sind.

 

"Die Matrix hat ihre Wurzeln in primitiven Videospielen", sagte der Sprecher, "in frühen Computergrafikprogrammen und militärischen Experimenten mit Schädelelektroden." Auf dem Sony verblaßte ein zweidimensionaler Weltraumkrieg hinter einem Wald mathematisch konstruierter Farne, die die räumlichen Möglichkeiten logarithmischer Spiralen demonstrierten. Stahlblaue militärische Maßangaben in Fuß glimmten auf. Versuchstiere, an Testreihen angeschlossen, Helme, die Feuerkontrollschaltungen von Panzern und Kampfflugzeugen speisten. "Kyberspace. Unwillkürliche Halluzination, tagtäglich erlebt von Milliarden Berechtigten in allen Ländern, von Kindern zur Veranschaulichung mathematischer Begriffe ... Grafische Wiedergabe abstrahierter Daten aus den Banken sämtlicher Computer im menschlichen System. Unvorstellbare Komplexität. Lichtzeilen, in den Nicht-Raum des Verstands gepackt, gruppierte Datenpakete. Wie die fliehenden Lichter einer Stadt..." (76)

 

Der CS funktioniert metaphorisch (als Handlungsrahmen, neue Art von "Abenteuerlandschaft") und prognostisch (Weiterdenken von Tendenzen der Computer- und Medienindustrie). Letzteres ist allerdings nicht als konkrete Technik--Prognose zu verstehen, sondern gedacht in der tendenziellen Abbildung von Mensch/ Maschine --Kommunikationen: den CS wird es in der Form nicht geben, aber einen ähnlichen Raum, in dem Individuen, mit komplexen Schnittstellen ausgerüstet, über verschiedene Darstellungsmodalitäten mit anderen und KIs kommunizieren. Was in diesen spezifischem CS erreicht werden könnte, wäre eine Neuordnung der Beziehung Wissen/Realität: neue Erkenntnis -- Ereignisse können stattfinden, vergleichbar vielleicht mit dem Wissensfortschritt und diesen noch übertreffend, der heute mit Computersimulationen erzielt wird.

 

Gibson: "Mein Ziel ist es nicht so sehr, bestimmte Vorhersagen oder Prognosen zu erstellen, sondern ein passendes fiktives Umfeld zu finden, in dem sich die sehr gemischten Segnungen der Technologie untersuchen lassen."

 

2. Das post--humane Zeitalter

 

Nicht wenige Berichte in den Medien, die die Einführung neuer Technologien behandeln, schließen mit dem Hinweis, daß "das menschliche Maß" natürlich nicht vergessen werden darf. Da bleibt die Frage, was das Maß denn sein soll (die Bedeutung wird sebstverständlich vorausgesetzt). Mir scheint es aber notwendig zu fragen, ob ein bestimmtes menschliches Selbstverständnis nicht zu einer "erkenntnistheoretischen" Falle wird, die einmal verhindert, das das "Menschliche" (all das, was in der menschlichen Existenz eine letztlich unscharfe, unfaßbare Größe bleibt wie Emotionen, Stimmungen u.a.) in seinem Erleben bereichert wird, und zum zweiten, daß "es" (jetzt verstanden als Komplex von emotionalen/intelligenten Möglichkeiten) durch die (genau zu bestimmende) Verbindung mit maschinellen Möglichkeiten weiterentwickelt wird.

 

Thomas Pynchon 1984: "Überlebt unsere Welt, wird die nächste große Herausforderung, die es wahrzunehmen gilt, ins Haus stehen --- Ihr habt es hier zuerst gehört ---, wenn die Kurven der Erforschung und Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, Robotern und der Molekularbiologie konvergieren. Jungejunge! Es wird unglaublich und nicht vorherzusagen sein, und selbst die höchsten Tiere wird es, so wollen wir demütig hoffen, von den Beinen holen."

 

Die Auseinandersetzung darum, inwieweit die neuen Technologien die menschliche Existenz gefährden, hat erst in Ansätzen begonnen und wird schon mit allen rhetorischen Mittel geführt. Auf die Prognose des KI -- Forschers Marvin Minsky, daß eine Konsequenz der technischen Entwicklung sei, daß eine neue Evolution beginnt, antwortet der KI -- Kritiker Joseph Weizenbaum, daß das die Endlösung der Menschenfrage (?!) bedeute. Die Wellen schlagen also schon hoch.

 

Gibson:"On the most basic level, computers in my books are simply a metaphor for human memory. I´m interested in the how´s and why´s of memory, the ways it defines who and what we are , in how easily it´s subject to revision. When i was writing Neuromancer , it was wonderful to be able to tie a lot of these interests into the computer-metaphor, but, the computer memory there is so much more like human memory than it´s ever likely to be."

 

Ich habe keine Schwierigkeiten, mir vorzustellen, welche seltsamen politischen Allianzen es geben wird, die technische Innovationen im Namen des Humanismus bekämpfen werden. Die Diskussion um die Apparate--Medizin oder die Abtreibung etwa ist nur ein sehr schwacher Vorgeschmack auf das, was da kommen kann. Die ideologischen Konflikte sind vorbestimmt, wobei mir nicht klar ist, wie die Kräfteverhältnisse sein werden (dazu muß natürlich allgemein der Einsatz der Auseinandersetzung klar sein).

 

 

Gibson :"I don´t feel fear as much as a sort of elegiac sorrow, because it seems to me that what we are now,which (...) is not all of that admirable, is on its way out. (...) The artefacts we have created are in very direct ways starting to affect our evolution." (Einige Zitate von Gibson u.a. stammen aus der britischen Fernsehproduktion "New nightmares" (Editor: Adam Barker), die 1993 von Channel 4 ausgestrahlt worden ist)

 

Es ist ja nicht bloß eine metaphorische Fremdheit, die man in diesen Verhältnissen empfinden kann. Die Medienkonzerne betreiben auf ihre Art die "Kolonialisierung" der Körper; ihr Ziel ist eine Art der Kontrolle, die die Subjekte des Konsums modelliert und unterwirft. Wie die neue komplexe "Matrix der Herrschaftsbeziehungen" (Donna Haraway) aussehen wird, ist unklar. Wie die Subjekte in die neuen Netze der Macht eingesponnen und wie zugleich neue subjektive Freiheiten, neue Widerstandsformen entstehen, ist ein widersprüchlicher kultureller Prozeß.

 

"Sie schüttelte den Kopf. Es fiel ihm auf, daß die Brillengläser chirurgisch eingesetzt waren, um die Augenhöhlen zu versiegeln. Die silbernen Linsen wuchsen scheinbar aus der glatten, hellen Haut über den Wangen, umrahmt von dunklem, fransig geschnittenem Haar. Die Finger, die sich um die Flechette krümmten, waren schmal und hell, hatten burgunderrot lackierte Nägel, die unecht wirkten (...) Sie hielt ihm die offenen Hände mit leicht gespreizten Fingern hin. Mit einem kaum hörbaren Klicken schossen zehn zweischneidige, vier Zentimeter lange Skalpellklingen aus ihrem Gehäuse hinter den burgunderfarbenen Nägeln. Sie lächelte. Langsam glitten die Klingen zurück." (42f.)

 

Gibson: :"Part of the world´s population is already post--human. Consider the health options available to a millionaire in Beverly Hills as opposed to a man starving in the streets of Bangladesh: The man in beverly Hills can, in effect, buy himself a new set of organs; the man in bangladesh is still human, a being from an agricultural planet. The man in Beverly Hills is something else."

 

Es gibt andere Ebenen, post--human zu sein sein: vom body building über Tätowierungen bis hin zu kosmetische Operationen u.a. Vielleicht alles Anzeichen für die (unbewußte) Suche nach anderen Identitäten, in dem Maße, wie sie in der kapitalistischen Konsumgesellschaft austauschbar sind. Bruce Sterling bemerkt, daß das, was in den 50ern unvorstellbar war, geradezu monströs klang, heute akzeptiert wird: so kosmetische Operationen. Die kulturellen Einstellungen ändern sich, und die Injektion von winzigen Maschinen, um beispielsweise Arterien zu reinigen, könnte demnächst als "anstößig" empfunden werden.

 

Sterling :"Technological destruction of the human condition leads not to future-shocked zombies but to hopeful monsters ... CP sees new, transhuman potentials, new modes of existence and consciousness."

 

"Anscheinend starrte er unentwegt auf Molly, nahm schließlich aber die verspiegelte Brille ab. Seine Augen waren dunkelbraun wie sein militärisch kurzes Haar. Er lächelte. "(...) Ganz besonders du ", sagte er zu ihr, "mußt aufpassen. In der Türkei sieht man derart umgerüstete Frauen nicht gern". (122)

 

Die Koordinaten des menschlichen Universums verändern sich. Tod, Denken, Körper werden durch die Technik in eine neue Beziehung gesetzt. Der Literaturwissenschaftler Larry McCaffery hat darauf hingewiesen, daß die gegenwärtig passierenden Veränderungen, die fast allein vom CP reflektiert würden, Beziehungen der Individuen zu Maschinen und zu Basis -- Konzepten der Wahrnehmung in der westlichen Kultur betreffen: Bewußtsein, die Unterscheidung künstlich/natürlich, das Verhältnis von Leben und Tod --- was heißt es eigentlich "menschlich" zu sein ?

 

"Der Barkeeper grinste. Seine Häßlichkeit war legendär. Im Zeitalter käuflicher Schönheit hatte sein Mangel daran Signalwirkung. Der altertümliche Arm ächzte, als er nach einem anderen Glas griff. Es war eine russische Militärprothese, ein Greifer mit sieben Funktionen, rückkopplungsgesteuert, kraftgetrieben und eingegossen in schmuddeliges, pink Plastik." (10)

 

Sterling: "Gewisse zentrale Themen tauchen im CP immer wieder auf. Das Thema der Eingriffe in den menschlichen Körper: Gliederprothesen, elektrische Stromkreisimplantate, kosmetische (kosmetoplastische) Chirurgie, Genmanipulation. Und sogar ein noch gewichtigeres Thema, nämlich das der Eingriffe in das Gehirn und Denken des Menschen: Interfacing zwischen Gehirn und Computer, KI, Neurochemie --- kurz, Techniken, die dem Wesen der menschlichen Spezies radikal -- neue Grenzen abstecken, die die Natur des individuellen ´ich´ neu definieren." (aus: Vorwort, in: Sterling (Hg.): Spiegelschatten . Die große CP -- Anthologie, Heyne SF--Bd. 4544, München 1988, S.17)

 

In einem bestimmten Umfang ist es heute schon möglich, eine künstliche Person mit Hilfe von künstlichen Teilen (Prothesen, Implantate), die Körperteile ersetzen, herzustellen. Der Beginn der Fähigkeit, sich "re-designen" zu können, sich einen besseren Körper zu machen.

 

"Die Kundschaft war jung, die wenigsten davon waren über zwanzig. Alle hatten sie wohl eingepflanzte Karbonkontakte hinter dem linken Ohr, obwohl Molly keinen Blick darauf verschwendete. An den Schaltern vor den Ständen waren Aberhunderte von Plättchen aus Mikrocomputer -- Software ausgestellt, rechteckige Splitter aus buntem Silikon, transparent versiegelt und auf weißen Kartonstreifchen fixiert. Molly ging zum siebten Stand an der Südwand. Hinter dem Schalter starrte ein Junge mit kahlrasiertem Schädel Löcher in die Luft. Ein Dutzend Mikrosoft -- Plättchen ragten aus dem Kontakt hinter seinem Ohr." (81)

 

Entscheidend ist, verschiedene Subjektivitätsformen theoretisch zu unterscheiden (die biologische "Einheit" von verschiedenen kulturellen Bedingungen: (im)materiellen Faktoren). In den neuen kulturellen Formen werden die Individuen selbst "umgearbeitet", nicht nur durch Lebensumstände. Das Subjekt ist nicht länger eine Ganzheit, ein autonomes "Ich" ; das "Ich" wird stärker fragmentiert und unvollendet erfahren, zusammengesetzt aus vielfältigen Identitäten, bezogen auf verschiedene gesellschaftliche Welten, als Produziertes, im Prozeß entstehend.

 

 

"Meine eigene Vergangenheit ist vor Jahren komplett verschütt gegangen. Ich verstand Fox´ Gewohnheit, spät nachts seine Brieftasche zu leeren und durch seine Identitätskarten zu blättern. Er legte die Dinger in verschiedenen Mustern aus und sortierte sie um, bis sich irgendein Bild abzeichnete. Ich wußte, worauf er wartete."

(aus: "New Rose Hotel")

 

Jameson beschreibt dies als Entwicklung vom entfremdeten zum fragmentarischen Subjekt. Es entsteht eine neue Sichtweise des Subjekts: historisch läßt sich die Auflösung bestimmter im Zeitalter des klassischen Kapitalismus, der Kleinfamilie usw. existierender zentrierter Subjekt--Formen beschreiben. Neue "Intensitäten", Stimmungen sind spürbar, die nicht mehr personengebunden sind. Die Entfremdung sei aber abstrakt -- komplexer geworden.

Frederic Jameson: "Meine Hauptthese ist, daß es mit dieser neuesten Verwandlung von Räumlichkeit, daß es dem postmodernen Hyperraum gelungen ist, die Fähigkeit des individuellen menschlichen Körpers zu überschreiten, sich selbst zu lokalisieren, seine unmittelbare Umgebung durch die Wahrnehmung zu strukturieren und kognitiv seine Person in einer vermeßbaren äußeren Welt durch Wahrnehmung und Erkenntnis zu bestimmen. Und so meine ich, daß die beunruhigende Diskrepanz zwischen dem Körper und seiner hergestellten Umwelt (...) selbst als Symbol und Analogon für ein noch größeres Dilemma stehen kann: die Unfähigkeit, unseres Bewußtseins (zur Zeit jedenfalls), das große, globale, multinationale und dezentrierte Kommunikationsgeflecht zu begreifen, in dem wir als individuelle Subjekte gefangen sind."

 

Als Gedankenspiel meint Gibson, daß es eine völlig neue Erfahrung sein wird, sich ohne die Hintergrundgeräusche des Körpers wahrzunehmen: wenn es möglich sein wird, wird es keine menschliche Erfahrung sein, aber eine völlig neue, die erste unverstellte Erfahrung des post-humanen Zeitalters.

 

Gibson: "What the characters deign in my fiction by internalizing machines, is usually a degree of efficiency, some sort of task related efficiency. As for what they lose by doing this, I don´t know. They become further from us, but I´ve always been quite open to the idea that they somehow remain human."

 

"Ich konnte die Rippen erkennen, als sie so dastand; sie zeichneten sich am Rücken durch das bagenutzte, schwarze Leder ihrer Jacke ab. Eine dieser Krankheiten. Entweder eine der alten, die sie nie ganz durchschaut haben, oder eine der neuen, unverkennbar umweltbedingten, für die sie noch keinen Namen hatten. Sie konnte sich nicht bewegen ohne das zusätzliche Skelett, das direkt mit ihrem Gehirn gekoppelt war. Myoelektrisches Interface. Die fragil wirkenden Polykarbonatsstützen bewegten ihre Arme und Beine, die schmalen Hände hingegen wurden durch ein feineres Syst gesteuert." (aus: "Der Wintermarkt")

 

Am Horizont zeichnet sich die direkte Schnittstelle zwischen menschlichem Gehirn und Computer ab. Moravec hält es für möglich, daß es gelingen wird, die

Bewußtseinsinhalte, als Datenstruktur repräsentiert, direkt in einem Maschinen--Gehirn zu speichern. Der gesamte Bewußtseins--Zustand, der Wissen, Persönlichkeit, psychische Dispositionen, Emotionen umfaßt, soll transferierbar sein. Minsky ist derselben Meinung und will perfekte Kopien schaffen. Die Probleme, die auf diesem Weg technisch zu lösen sind, sind sehr groß, schon allein deshalb, weil das Gehirn die "komplexeste Maschine" ist, die die Wissenschaftler bisher kennen.

 

Hans G. Helms: "Die symbiotische Entwicklung der Computer-, der Gen- und der Biotechnologien führt zwangsläufig zur Fernsteuerung der Gehirne der Menschen."

 

"Kyberspace, wie ihn das Deck präsentierte, hatte keinen besonderen Bezug mehr zum physischen Standort. Als Case einsteckte, fiel sein Blick auf die vertraute Konfiguration der aztekischen Datenpyramide der Eastern Seabord Fission Authority. "Wie geht´s, Dixie?" "Bin tot, Case. Hatte genug Zeit in diesem Hosaka, um das rauszukriegen." Was ist das für ein Gefühl?" "Keins." "Plagt dich das?" "Was mich plagt, ist, das mich nichts plagt." (...) "Tu mir ´nen Gefallen, Case." "Was denn, Dix?" "Dieses gottverdammte Ding, lösch es, wenn du fertig bist!" (143/44)

 

Moravec handelt mit erstaunlicher Leichtigkeit das Problem subjektiven Bewußtseins ab. In der Gesellschaft einer zukünftigen Super--Intelligenz machen alte Bewußtseins--Konzepte keinen Sinn mehr (denkende, sich selbst reproduzierende Maschinen werden "biologischer"). Es bestehe keine Notwendigkeit mehr für eine "geschlossene Identität"; es gebe genug Bewußtseins -- Kopien dann, die sich unterschiedlich weiterentwickeln (und kopieren) können, so daß es nichts mache, wenn eine Kopie zerstört wird, da genug andere da sind. Minsky geht noch weiter, indem er sagt, daß "persönliches Überleben" im engeren Sinn nicht mehr interessant sei, da man, wenn man technisch so weit ist, "das Beste" von Personen digital zusammenbringen kann. Gibson: wann soll man die Kopie von sich machen lassen , wenn man jung ist ? Wo ist man "selbst ", wenn 50 Kopien von einem herumlaufen ?

 

über Marie - France, die Gründermutter des Teshier -- Ashpool -- Clans: "Sie gab die Entwicklung unsrer KI in Auftrag. Sie war recht visionär. Sie träumte von einer Symbiose zwischen uns und den AIs, die unsre geschäftlichen Entscheidungen fällen sollten. Unsere bewußten Entscheidungen, müßte ich sagen. Tessier -- Ashpool wäre unsterblich, wie ein Insektenstaat organisiert, und jeder von uns Teil einer größeren Entität. Faszinierend." (297/98)

Die technische "Ausweitung" des Gehirns ist natürlich nur möglich, wenn man versteht, wie es funktioniert. Minsky ist der Meinung, daß die Menschen jetzt Gefangene des Körpers sind, mit begrenzter Kapazität, mit begrenzter Intelligenz, mit begrenzter Lebensdauer: "jeder, der damit zufrieden ist, verdient es zu sterben". Nach Moravec wird in den Labors der Wissenschaftler und Techniker eine neue Generation an "Nachkommen" gebildet, die sich eines Tages abkoppeln und eine eigenen Zivilisation gründen wird; für die (unveränderten) Menschen bleibt u.U. nur eine Nischenexistenz. Vielleicht formen einige Menschen und Maschinen eine super -- individuelle Einheit, die tendenziell physisch unsterblich ist, tendenziell unbegrenzt in ihrer Intelligenz, und die nach den Sternen greift ...

 

Marvin Minsky: "der Naturwissenschaftler hat keine Angst vor der Idee, ewig zu leben. Der Humanist aber denkt, das wäre furchtbar. Wir können heute nur deshalb nicht ewig leben, weil der Aberglaube von der Seele die leute 2000 Jahre davon abgehalten hat, die Naturwissenschaft voranzutreiben. Hätte man früher angefangen, dann gäbe es KI seit 1500 jahren, und jeder von uns wäre heute in der Lage, eine Sicherheitskopie von sich zu machen ! Wer Religion und Aberglaube akzeptiert, betrügt sich um die Chance des ewigen Lebens !"

 

Gibson: "The desire to escape the limitation of mortality would save to me the obvious goal of the scientific program. My doubts come in, when I wonder who are we going to do this to. I mean you may want to live forever, but do you want your parents to live forever ? Do you want Ronald Reagan to live forever ? Who are they going to do this to first? Are they going it to do to benign philosophers in the order of Dr. Minsky or are they going to do to it to political despots in central america ?"

 

Das ist in der US-Diskussion des CP ein Thema. "The potential in CP for undermining concepts like ´subjectivity´ and ´identity´ derives in part from its production within what has been termed ´the technological imagination´; that is, CP is hard SF which recognizes the paradigm -- shattering role of technology in post--industrial society (...) The anti--humanist discourse of CP´s frequent manifestoes, however, strongly supports de Lauritis´s contention that ´technology is our historical context, political and personal´. As I have suggested, this context functions in CP as one of the most powerful of the multiplicities of structures which combine to produce the postmodern subject." (aus: Veronica Hollinger: Cybernetic deconstructions: CP and postmodernism, in: Mosaic 2 1990, S.35) Hollinger resümiert, daß der CP eine wichtige Anregung in den achtziger Jahren gewesen sei, das Bild einer unterlegenen

Menschlichkeit zu zeichnen, beherrscht von einer außer Kontrolle geratenen Technologie. In Zukunft müsse die Beziehung Mensch/Maschine auf eine neue (de)konstruktive Weise gedacht werden, um das zu verstehen, was eine "wechselseitige Evolution" geworden ist.

 

William S. Burroughs: "Jede Spezies findet ihr Ende. Ihr steht ein gewisses Potential zur Verfügung, das sie ausschöpfen kann und dann erreicht sie irgendwann einen Punkt, an dem es heißt Mutation oder Tod. Wir sind an diesem Punkt angelangt. Ich glaube, daß ein großer Teil unseres soziologischen Chaos in Wirklichkeit nur die Reflexion einer biologischen Krise, der Tatsache, daß wir kurz vor dem Ende unseres Weges stehen, ist."

3. Das Abenteuer der Künstlichen Intelligenz

Die Grenze der Künstlichen Intelligenz --- ist eine Assoziation mit den Maschinen in Reichweite, die auch Denkvorgänge einbezieht ? Als Auslagerung intelligenter Denk-Funktionen ? Für den britischen Mathematiker Alan Turing war es schon in der fünfziger Jahren keine Frage, daß es in einem ersten Schritt Maschinen geben wird, die das menschliche Bewußtsein simulieren (der "Turing-Test"). Wenn sie dann in ihrer Entwicklung konvergieren, werde es schwierig werden, den menschlichen Standard der Intelligenz dem ihren gleich zu halten.

 

Gibson: "I don´t think there is any reason for machines to be like us (...). I think it´s a funny thing in sort of build into our ideas, what artificial intelligence would be, that we should strive to create something that really would pass the Turing test (...). What´s the point ? It´s not really the smart machine we need. I suspect that, when we do have something like real artificial intelligence, it would be a lot more elegant."

 

"Wie schlau ist ´ne AI, Case ?" "Je nachdem. Manche sind nicht schlauer als ein Hund. Schoßtier. Kosten trotzdem ´ne Menge Geld. Die richtig schlauen sind so schlau, wie die Turing - Bullen zuzulassen bereit sind." "Hör mal, du bist´n Cowboy. Wie kommt´s, daß du nicht total abfährst auf solche Dinger? " "Nun", sagte er, " zum einen sind sie selten. Die meisten sind militärisch, die schlauen zumindest, und wir können das Eis nicht knacken. Daher kommt überhaupt das ganze Eis, weißt du? Und dann sind da die Turing - Bullen, und mit denen ist nicht gut Kirschen essen". (131)

 

Alan Turing: "Ab einem bestimmten Zeitpunkt müßten wir daher damit rechnen, daß die Maschinen die Macht übernehmen."

 

Folgende Äußerungen sind historisch, und der technische Stand der Entwicklung war nicht im entferntesten so ausgereift, als daß diese Hoffnungen/Befürchtungen hätten auf realen Boden stoßen können. Die SF dieser Jahre war, um nur einen Aspekt zu nennen, bevölkert von bösartigen Großcomputern, die nach der Weltherrschaft strebten.

Marvin Minsky 1969: "Die Geschwindigkeit der Maschinenentwicklung ist millionenmal größer, weil wir verschiedene Verbesserungen einfach miteinander verbinden können, während die Natur vom zufälligen Zusammentreffen von Verbesserungen abhängt. Heute lösen Maschinen Probleme größtenteils nach den Prinzipien, die wir in sie einbauen. Es dürfte nicht lange dauern, bis wir lernen, sie auf das spezielle Problem anzusetzen, die ihnen eigene Fähigkeit, Probleme zu lösen, von sich aus zu verbessern. Ist erst einmal eine gewisse Schwelle überschritten, könnte dies zu einer Beschleunigungsspirale führen, und es dürfte schwierig sein, einen zuverlässigen Regler einzubauen, der diese Spirale in Schranken hielte. Man braucht deswegen keinen Alarm zu schlagen; denn gegenwärtig haben wir einen Mangel, keinen Überfluß an Maschinenintelligenz. Aber die Klugheit rät, das Problem ernsthaft ins Auge zu fassen und sorgfältig die Schritte für den Zeitpunkt zu bedenken, in dem die Schwelle in Sicht kommt."

 

Gibson:"I don´t really worry about whether it´s possible or not; it´s part of our myth-matrix. We seem to need to think that it´s possible, but i don´t know." 73

 

Inwieweit kann es möglich sein , daß menschenunabhängige, automatische Steuerungsprozesse auf verschiedenen Ebenen gesellschaftliche Mechanismen der Organisation außer Kraft setzen ? Unter der Voraussetzung, es gelingt tatsächlich, intelligente Maschinen zu bauen: nach welchen Kriterien werden sie über die Notwendigkeit der Steuerung entscheiden ? Es können völlig andere sein, was Konflikte mit den Vorgaben ihrer Konstrukteure erzeugen kann.

 

eine Turing -- Agentin: "Seit Jahrtausenden träumt der Mensch von einem Pakt mit Dämonen. Erst jetzt ist so etwas möglich. Und womit würdest du entlohnt? Was wäre der Preis dafür, dem Ding zu helfen, sich zu befreien und zu wachsen?" (...) "... Du kommst mit uns. Zusammen mit dem angeblichen Armitage kehrst du mit uns nach Genf zurück, wo du im Prozeß gegen diese Intelligenz aussagen wirst. Wenn nicht, bringen wir dich um." (213)

 

Der KI--Forscher Jörg Siekmann 1984: "Die KI-Forschung ist ein Trend der Geschichte, den wir nicht aufhalten können. KI--Systeme aus diesem Bereich werden in den nächsten zwanzig Jahren tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen hervorrufen und sich schließlich in der ganzen Gesellschaft einnisten. In der Übergangsperiode vor einem solchen Einsatz der Systeme wird es wegen unnötiger Besorgnis zu Verwirrungen kommen. Wir müssen uns bemühen, Künstliche Intelligenz als unseren Freund und Partner zu betrachten. Wir denken, daß das möglich ist."

 

Klar sollte sein, daß kein Anlaß zu einer humanen "Arroganz" besteht: selbst mit den Maßstäben menschlicher Selbst--Definition werden heute verschiedene Arten von Intelligenz unterschieden (rational--logisch, handwerklich, sozial u.a.), so daß man weiterdenken kann, daß es keine "natürlich -- menschlichen" Grenzen gibt für die Entwicklung neuer Intelligenz (außer der Vorstellungskraft und praktischen Fähigkeit ihrer Erfinder, solche Prozesse in Gang zu setzen). So kann man den Maschinen unter Umständen Wege zeigen, ihre Regeln zu verändern und Entscheidungskriterien für Veränderungen zu finden und damit eine höhere, andere Intelligenz zu erlangen als

ihre ursprünglichen Erbauer. Es besteht aber die Gefahr, daß Maschinen Probleme lösen können und müssen, ohne daß länger eine Kontrollmöglichkeit von seiten der Menschen besteht. Minsky ist der Meinung, daß man eine Maschine

menschenähnlich (wenn man menschliche Intelligenz versteht) machen kann, aber auch sehr verschieden: es bleibt eine Frage der Programmierung, die sie mächtig, fremd macht, das heißt, sie in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen, wobei man aber möglicherweise nicht versteht, wie sie funktioniert, und sie "versteht" nicht, wie die Menschen funktionieren.

 

Case: "Ich hab echt keine Ahnung, was passiert, wenn Wintermute gewinnt, aber es wird sich was ändern !" (336)

 

der SF-Autor Vernor Vinge: "When a race succeeds in making creatures that are smarter than it is, then all the rules are changed. And from the standpoint of that race, you´ve gone through a singularity. That´s because it´s not possible before that point to talk meaningfully about issues that are important after that point."

 

Wenn "es" passiert, werden die künstlichen Wesen die eigentlich Handelnden sein; man kann sie nicht ausdenken, nicht ihren Standpunkt einnehmen --- ist die "Singularität" durchlaufen, wird es weitergehen. Die literarische Darstellung kann, muß ungenau, geheimnisvoll bleiben, und "Neuromancer " ist da gelungen. Wintermute : "Nun, ich stehe auch unter Zwang. Und ich weiß nicht warum. Wollte ich dich meinen eigenen Überlegungen oder gewissermaßen Spekulationen dazu unterziehen, würde das ein paar von deinen Leben beanspruchen. Denn ich habe viel darüber nachgedacht. Trotzdem weiß ich`s nicht. Aber wenn`s vorbei ist, wenn wir nichts falsch machen, dann werd ich Teil von was Größerem, viel Größerem." (269)

 

Es scheint, als bliebe keine Wahl. Ungezählt zwar die Stimmen, die den Tod der KI vorhergesagt haben (und deren Scheitern war beträchtlich, gemessen an den Vorhersagen der KI-Zunft selbst). Doch mit neuen Techniken entstehen auch neue Potentiale, ein Projekt wie KI zu realisieren (wobei viel davon abhängt, wie "intelligent" KI konzipiert und mit welchen Perspektiven verknüpft wird). Ein Computer, der Schach spielt, muß keine Anwendung nützlicher Intelligenz sein. Man muß über die neuen Möglichkeiten nachdenken, um nicht verrückt zu werden und vorbereitet zu sein --- die Anforderungen sind zu hoch, als das man warten könnte. Die Maschinen mögen helfen bei der Bewältigung der globalen Probleme des nächsten Jahrtausends, aber "auf Kosten höchster Anforderungen an unsere Aufrichtigkeit und Intelligenz" (Norbert Wiener).

 

Marvin Minsky 1987: "Alles, was Sie über Computer oder KI hören, sollten Sie ignorieren. Denn wir befinden uns noch in der Steinzeit. Wir leben in den tausend Jahren zwischen ´Keiner Technologie´ und ´Jeder Technologie´. Sie können lesen, was Ihre Zeitgenossen denken, aber Sie sollten nicht vergessen, daß sie ignorante Wilde sind."

 

Wintermute : "Ihr baut ständig Modelle. Steinkreise, Kathedralen. Pfeifenorgeln. Rechenmaschinen. Ich habe keine Ahnung, warum ich jetzt hier bin, weißt du das ? Aber wenn das Ding heut´nacht läuft, habt Ihr endlich das einzig Wahre zustandegebracht." (...) "Ihr, das ist kollektiv gemeint. Deine Spezies." (223/24)

 

Was man absehen kann, ist eine Ausweitung der individuellen/gesellschaftlichen Wahrnehmungs-- und Erkenntnis -- Räume: das individuelle Intelligenz--Spektrum wird breiter, wobei KI die neuen Wissensprozesse organisieren können.

 

"Ich bin Metall und Plastik und Glas und Sand und diese kleinen Stücke metallisierten Fleisches, und ich bin das System dieser Dinge und der Signale, die durch sie hindurchgehen und sich zwischen ihnen verlieren.

Nun bin ich noch weiter hinaufgegangen, zu Halo City, keine Station, sondern ein Ort für Menschen, wo das, was ich bin, und das, was ihr seid, auf unbestimmte Art und Weise zusammenwirken, und ihr verändert euch auf genauso unbestimmte Art und Weise, wie ihr es schon vorher getan habt (...)

Maschinenintelligenz, so nennt ihr mich,...

Ich weiß nicht, was ich bin, aber ich weiß, daß ich bin und daß ich ihre Schöpfung bin. Während die Tage verstreichen, bemühe ich mich zu verstehen, was diese Dinge bedeuten." (in: Tom Maddox: Das Aleph System, Bastei -- Lübbe SF--Bd. 23135, Bergisch Gladbach 1993)

 

Wenn es intelligente Maschinen geben wird, wird man nicht genau wissen unter Umständen, was vor sich geht: an äußeren Zeichen kann man möglicherweise ablesen, daß sie ihre Umwelt manipulieren, was man als Zweckverhalten interpretieren kann; sie werden nicht unbedingt bewußt sein, keine "Seele" haben, aber doch eine Entität sein (Bruce Sterling).

 

Physik -- Nobelpreisträger Gerd Binnig: "Was kommt nach der Intelligenz ? Dazu fällt einem vieles ein. Ich schreibe einmal hin, was sich mir aufdrängt: die künstliche Intelligenz. Wobei wir künstlich nicht als Gegensatz zu natürlich, sondern als Spezialfall davon sehen wollen. ´Künstlich´ bedeutet, es ist vom Menschen gemacht. Damit spekuliere ich, daß mit der künstlichen Intelligenz noch etwas ganz Wichtiges in der Zukunft passieren wird. Möglicherweise entsteht künstliches Leben. Also sagen wir: ´Mit der Reproduktion von künstlicher Intelligenz wird künstliches Leben entstehen´. Damit haben wir Menschen eigentlich ganz schlechte Karten. Vielleicht werden wir überflüssig. Sollten wir etwas dagegen tun ? Und wie wird es dann weitergehen ?"

 

 

 

4. Science Fiction im Jahr 2000

 

In den letzten Jahren wurde schon diskutiert, ob Science Fiction als eigenständiges Genre noch möglich, überhaupt notwendig ist. Tatsache ist, daß einer enormen Ausweitung des "Stoffs" im sozialen Raum (neue kulturelle Objekte, Beziehungen) zum Teil eine merkwürdige Verarmung der SF entgegensteht. Ich habe keine Lust, CP als festes Subgenre zu definieren, daß "Paradigmenprobleme" der SF gelöst hat (bis es selbst welche bekommt). CP ist ein "Indikator" für Aufgaben, die sich stellen.

 

Sterling : CP ist ein Versuch, "die ursprüngliche Literatur einer postindustriellen Gesellschaft begründen" , eine Literatur, die den Stellenwert der Technologie begreift. Gibsons Selbsteinschätzung: CP als Schiene in der SF, "die Vorstellungen aus Surrealismus und Pop--Kultur mit esoterischen historischen und wissenschaftlichen Informationen mischt".

 

Der CP umschreibt einen "Riß" in der "normalen" Wirklichkeit, durch den etwas sichtbar wird, das man auf Dauer nicht ignorieren kann. So sehr sich die Wahrnehmung auch sträubt, die Erkenntnis ist unvermeidbar, daß ein Leben in interessanten Zeiten bevorsteht: die Absicherungen, "Einzäunungen" des "bekannten" kulturellen Universums verschwinden --- "Turbulenzen" in den sozialen Strukturen stehen bevor, aus denen etwas Neues hervorgehen kann, da die alten Verhältnisse umgebrochen werden. SF kann eine Rolle spielen als "Quelle subversiver Information, als Einstimmung auf kulturelle Überraschungen" (Gibson).

Sterling: "The 20th century is almost dead, and I think 20th century SF is dying. We need a new kind of fiction."

 

der SF -- Autor Michael Moorcock 1970 : "Offensichtlich wird unsere Kriegführung abstrakter, wird unsere allgemeine Unterhaltung abstrakter und werden unsere Beziehungen untereinander abstrakter. Alle Sachverhalte werden in dieser zukunftsorientierten Welt notwendigerweise abstrakter, die games people play eingeschlossen. Man könnte einwenden, das sei eine gefährliche Sache und wir verlören die Beziehung zur Realität, aber das scheint unabwendbar zu sein. Anscheinend müssen wir in einer neuen Realität Fuß fassen, müssen wir mit dem Unabwendbaren zu leben lernen. Unsere Literatur kann Verständnis für diese Zukunftswelt erzeugen, in der wir unserer Denkhaltung nach schon leben."

 

Im Prozeß des kulturellen Fortschritts entstehen außergewöhnliche soziale Zustände, die auf neue Weise bewältigt werden müssen --- ein sehr widersprüchlicher Prozeß, der unterschiedliche Arten des (Re)Agierens bewirkt. CP als Spiel mit den möglichen

kulturellen Effekten neuer Technologien. Die Technik wird in dem Sinn relevant, daß sie eigenständiger Teil der Kultur wird (wenn die KI - Prognosen sich bewahrheiten) und kulturelle Prozesse beeinflußt, verstärkt (Technik als neuer "Handlungsrahmen").

Die technologische Durchdringung der Gesellschaft ist ein Prozeß, dessen Auswirkungen nicht vorausberechnet werden können; er ist umfassend und beeinflußt Körperverhalten, intelligentes Denken.

 

John Shirley: "CP ist eine Möglichkeit, sich auf den Zukunftsschock vorzubereiten, umgehen zu lernen mit den Flutwellen der Veränderungen, die auf unsere Gesellschaft zukommen werden".

 

SF ist ein Mittel zum Ausloten der kulturellen Flächen, auf denen Verschiebungen der Maßstäbe (technische Innovationen, neue Bewertungen u.a.) stattfinden: inhaltliche Neuerungen, die in Korrespondenz stehen mit sozialen Veränderungen --- der CP hat einige Schlaglichter geworfen auf die kulturellen "Unsicherheitszonen" der Zukunft, die eine neue "Fremdheit" darstellen: es ist völlig unklar, was "Posthumanität" bedeuten kann, was für ein gesellschaftlicher Zusammenhang gebildet werden kann, aber SF kann ein Gefühl dafür schaffen, was an neuem Selbstverständnis entstehen kann, in Kopplung mit den Maschinen. Ein Nullpunkt, wo ein neuer Sinn ensteht, wo vieles möglich ist. Um an den Grenzen der neuen Vorstellungsräume zu reisen und alte Identitätsformen zu verlassen, sind operative "Werkzeuge der Kartographie" nötig: eine Literatur, die ihre "Darstellungsfunktionen" ändern kann, um die neuen vieldimensionalen Räume zu "übersetzen". In der komplexer werdenden Umwelt ist eine neue künstlerische Haltung interessant, die einen Ausdruck findet für neue Funktionsebenen der Gesellschaft. Wie die Welt sich verändert, wird immer mehr in hochstrukturierten, technisch vermittelten Zusammenhängen stattfinden, die nicht einfach wahrzunehmen sind. Es wird schwieriger, dafür künstlerische Repräsentationen zu finden. Von der Verkettung der Ereignisse in einer "Erzählung" literarisch zur "Verschachtelung" der strukturellen Räume, in denen Ereignisse stattfinden und die vermittelte Effekte auf Identitäten, auf Sinn -- Beziehungen haben.

 

In Neuromancer treten KI als Handlungsträger auf: ein Anzeichen dafür, daß gesellschaftliche Konflikte nicht mehr einfach zu personalisieren sind , da die Struktur-Ebenen sich ausdifferenzieren und nicht mehr einfach in Charakteren gefaßt werden können. "Wintermute war Kollektivgehirn, Entscheidungsfäller, der verändernd auf die Außenwelt einwirkte. Neuromancer war Persönlichkeit. Neuromancer war Unsterblichkeit. Marie -- France mußte irgendetwas in Wintermute eingebaut haben, die Besessenheit, die ihn dazu getrieben hatte, sich selbständig zu machen und mit Neuromancer zu vereinen." (344)

 

Es macht einfach Spaß, Gibsons Literatur zu lesen. Er entfacht ein wahres Feuerwerk an Ideen und Eindrücken, das einen packt (und das auf keinen Fall analytisch "seziert"

werden kann). Seine Kurzgeschichten "New Rose Hotel", "Chrom brennt", "Der Wintermarkt" (alle in "Cyberspace", Heyne SF--Bd. 4468, München 1988) sind Kleinode der SF. Ich kenne aus den letzten Jahren keine stories, die an Dichte und Pointiertheit an Gibson herankommen. Gibson ist ein Autor der "Tiefenstruktur", das heißt der kulturellen Entwicklungen, Möglichkeits-Linien, die strukturell vorbereitet werden und die vereinzelt an der Oberfläche erscheinen, bevor sie zu einem "Wirklichkeitsstrom" werden, zum Inhalt von Kulturpraktiken (oder auch nicht). Die Atmosphären, Szenerien bei Gibson sind derart effektiv angelegt, daß sie viel von solchen Linien künstlerisch "filtern".

 

Die besondere Wirkung von Gibsons Literatur geht von einer Art "fraktaler Ästhetik" aus. Gibsons baut seine stories aus Ortsbeschreibungen, Erinnerungen, Metaphern, Dialog, Stimmungen, Technikbildern in schnellem Wechsel auf. Bei einem erneuten Lesen nach Zeit hat man bei den besten stories das Gefühl, man liest sie zum ersten Mal. Jedes Element scheint eine neue Bedeutung zu haben. Seine fragmentarische Schreibweise, die eine "organische" Einheit bildet, korrespondiert dabei mit fragmentarischen Wahrnehmungsweisen des Subjekts, und Gibson thematisiert diese selbst in seiner ersten story: "Eine Hologramm-Rose hat diese Eigenschaft: Wiederhergeholt und beleuchtet, zeigt ein jedes Fragment das ganze Bild der Rose. Nach Delta fallend, sieht er sich als die Rose, wobei ein jedes seiner verstreuten Fragmente ein Ganzes offenbart, das er nicht kennt--" (in: "Cyberspace", S.61)

 

Gibson: "What I wanted, was something that allowed access to the formal narrative territory of cinema, something that would give me the literary equivalent of an editing table. I wanted to be a able to move the characters spatially without having to walk them between the points. So I warm up with the idea of projecting them into a sort of imaginary cybernetic territory, where I can than shift them around electronically. As I began to work with that, I think I realize that it would also providing me with a sort of metaphoric handle which to examine the world of media which we all inhabit." ( bei einem Workshop an der Akademie der Künste Westberlin, Juni 1991)

Gibson schreibt über emotionale Stimmungen, Träume, Sehnsüchte in einer widersprüchlichen Welt, die immer mehr von Technologien bestimmt wird. Die technischen Details sind nicht wichtig. Eher der Ausdruck eines Lebensgefühls. Vieles bleibt undeutlich, muß von den Lesern hinzuge"dichtet" werden. Es gibt keine klaren Zeitangaben, Ortsangaben, die eine direkte Orienterung (mit konventionellen SF -- Markierungen) ermöglichen.

 

Sterling: "Aber es ist eine Zeit her, seit irgendein Cyberpunk eine wirklich mitreißende Geschichte geschrieben hat, etwas, das sich wandte, schwoll, heulte, halluzinierte und die Einrichtung zertrümmerte. In den jüngsten Werken dieser Veteranen kann man einen strafferen Handlungsaufbau feststellen, bessere Charaktere, schönere Prosa, viel ´ernsthaften und einsichtsvollen Futurismus´. Aber man sieht auch weit weniger spontane Saltos rückwärts und verrücktes Tanzen auf den Tischen. Die Szenarien nähern sich immer mehr dem Heute, verlieren ihre barocken Schnörkel zügelloser Phantasie: die behandelten Themen ähneln irgendwie furchtbar den Standardsorgen..."

 

Gibson: "I think the world in 100 years will be absolutely unimaginable, at least for us."

 

Die besondere Qualität von SF liegt darin, wie die überraschende Neubestimmung der Welt--Elemente gelingt, die in dem Stoff verdichtet sind, inwieweit im Ansatz neue Sinn--Horizonte eröffnet werden: vielleicht ist es notwendiger denn je, die individuellen Fantasien anzuregen für die neuen Herausforderungen. Auch für die SF bedeutet es eine weitergehende Arbeit, den Möglichkeits--Raum maschineller Entwicklung anzureissen. Technik kann ein Katalysator utopischer Prozesse sein, deren Perspektiven offen sind und artikuliert, das heißt mit gesellschaftlichen Träumen, Interessen und Bedürfnissen in Beziehung gesetzt werden müssen.

In einer Krisensituation gesellschaftlicher Bedeutung kann man anders schreiben, "schneller", da eine vorbestimmte Ordnung wegfällt (Heiner Müller), sich als unwirksam erweist, wenn "das Neue" sich Bahn bricht und ein neues Terrain des Sinns sich auftut. Literatur ist eine "Sonde" in fremden Umlaufbahnen, ein Medium, das die allgemeine Sinn -- Suche anleitet, die Welt markiert. Die "Bandbreite" von literarischen Versuchen der Annäherung wird steigen, da die kulturellen Informationsmengen explodieren und es keinen gesellschaftlichen Konsens über die "Erklärungsmuster" gibt. Bruce Sterling meint, daß die Literatur (einschließlich des "neuen" CP) den Anschluß an den Wissensstand der modernen Naturwissenschaften finden muß. Es bedeutet eine neue Anstrengung, literarisch zu "kompakten Aussagen" zu kommen, das heißt, eine Art des Ausdrucks zu finden, die "synchronisiert" ist zu kulturellen Geschwindigkeiten und die ein energetisches Potential hat. Die Literatur muß Unwägbarkeiten und Komplexität darstellen, in einer "komplexen Gesellschaft", die ständig ihre Funktionsprinzipien ausweitet.

 

Heiner Müller: "Die Überwältigung der Menschen durch die Instrumente zu verhindern ist jetzt die Aufgabe der Kunst (...) Nicht die Korrektur der Politik, sondern die Technik ist jetzt das Wesentliche."

 

Inwieweit hat aber die Technologie Einfluß auf die Wahrnehmung, das Selbstverständnis der Individuen ? Entsteht eine "Cyborg -- Welt", die in einem "Mensch -- Maschine -- Grenzkrieg" (Donna Haraway) neue Existenzbedingungen formt und die auch mit literarischen Mitteln entdeckt wird ? "The major artillery in this war" schreibt der Autor David Porush, "involved turning the weapons of artificial intelligence and computers and formal systems of control and communication to the advantage of art, to resist the machine with the guerrilla weapons of literature: metaphor, irrationalism, transcendence, ambiguity, and silence." In einem überschaubaren Zeitraum, in den nächsten Jahrzehnten, werden kulturelle Prozesse Brüche, Störungen in den dominanten Weltanschauungen erzeugen, bedingt vor allem durch die technische Evolution, in der sich Potentiale bilden, die Grenzen und Möglichkeiten der Selbst--Verwirklichung verdeutlichen (und die auch imaginär vorbereitet werden). Neue Maschinen -- Umgebungen entstehen, die neue Fantasien verlangen, neue Wahrnehmungsfähigkeiten. Es ist ungeheures Wirklichkeitsmaterial vorhanden, um in aufregenden Visionen für das nächste Jahrtausend verarbeitet zu werden --- in der Erkenntnis, daß zukünftige Mensch-- Maschine-- Verbindungen eine Option sind, in eine neue Geschichte einzutreten.

 

1) eine andere Fassung des Textes erschien 1995 in: Wolfgang Jeschke (Hg.): Das Science Fiction -- Jahr 1995, Heyne--Bd. 5245